Mein „anderer Lebenslauf“

Klaus Schedler

von Klaus Schedler

Story

Manche Leute scheuen sich, ihren Lebenslauf zu schreiben. Klar, da gibt man persönliche Dinge von sich preis; stellt sie anderen Personen zur Verfügung, von denen man nicht weiß, was sie sie damit anstellen. Vollkommen zu Recht ist man ist man in den letzten Jahrzehnten bei den Angaben sensibler geworden und beschränkt sich auf das Notwendigste.

Demgegenüber glich mein allererster Lebenslauf einem kleinen Entwicklungsroman, den ich jedoch bald auf eine Druckseite gekürzt hatte. Im Laufe meines Berufs- und Arbeitslebens wurde er regelmäßig aktualisiert. Lang schon reichte eine Druckseite nicht mehr aus. Den Wechsel vom funktionalen zum tabellarischen Lebenslauf habe ich erst in den Nullerjahren vollzogen.

Dann aber ergab es sich, dass ich vermehrt spirituell ausgerichtete Bildungsgänge und Tätigkeiten anstrebte, für die Zulassungsverfahren vorgesehen waren. Die die hierfür relevanten Nachweise bzw. Erfahrungen werden jedoch im beruflichen Alltag üblicherweise ausgeblendet. Hierbei erwiesen sich all meine bisherigen Lebensläufe als unbrauchbar. Deshalb führe ich seitdem einen weiteren, eben einen „anderen Lebenslauf“. Und der ist wieder funktional.

Kritiker mögen nun fragen „Wie sinnvoll ist das denn, wo man doch nur ein einziges Leben führt?“ oder „Ist das nicht schizophren?“ Anstelle einer Antwort verweise ich auf den Film-Klassiker „Rashomon“ von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1950. Die Handlung ist schnell dargestellt: Mitte des 12 Jahrhunderts lockt ein Bandit in Japan einen Samurai und seine junge schöne Frau in einen Wald. Dort vergewaltigt er die Frau und tötet anschließend den Samurai. Ein Holzfäller wird Zeuge des Verbrechens.

Im Film nun wird diese Handlung nacheinander in der jeweiligen Version der Protagonisten dargestellt. Dabei geschieht etwas ganz Erstaunliches, denn jeder der solcherart perspektivisch dargestellten Handlungsabläufe erscheint für sich genommen absolut folgerichtig und schlüssig. Vor diesem Hintergrund gehen alle Fragen nach Verantwortung, Gerechtigkeit oder Schuld ins Leere bzw. machen es vor jeder Beurteilung erforderlich, zunächst einmal bewusst eine Position zu beziehen und sie zu reflektieren, um sich der Bedeutung der eigenen Perspektive klar zu werden.

Als ich den Film erstmals mit 18 gesehen hatte, hat er mich tief bewegt. Doch nicht nur mich: Bei dem deutschen Philosophen Martin Heidegger wurde er ebenso gewürdigt, wie bei dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber.

Das bringt mich zu einem Witz, den Paul Chaim Eisenberg neulich im Radio erzählte: „Zwei Streitende wenden sie sich an den Rabbiner. Der hört den einen an und meint, du hast recht. Danach den anderen und sagt auch ihm, du hast recht. Da kommt die Frau des Rabbiners dazu und meint, aber die können doch nicht beide recht haben, worauf der Rabbi sagt: Und du hast auch recht.“

Genauso verhält es sich mit meinen beiden Lebensläufen zu meinem einzigen Leben.

© Klaus Schedler 2020-06-23

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