Ich bin ein Einzelkind. Zumindest bin ich so aufgewachsen. Einsam und ziemlich viel allein. Mit Sehnsucht habe ich mir Geschwister gewünscht und die anderen Kinder beneidet, die welche hatten. Es war eine sehr traurige Kindheit. Und die Langeweile war mein ständiger Begleiter.
Eines Tages kam ich auf den Friedhof. Mit meiner Mutter oder meiner Großmutter, so genau weiß ich das nicht mehr. Da sah ich ein kleines Grab mit einem schlichten Holzkreuz. Neugierig wollte ich mehr darüber wissen.
Da drinnen würde mein Bruder liegen, sagte man mir. Er wäre zu früh auf die Welt gekommen, nur zwei Tage alt geworden und dann gestorben, 5 Jahre vor meiner Geburt. Wahnsinn! Da hätte ich einen älteren Bruder gehabt, wenn er am Leben geblieben wäre. Ich begann, ihn sofort zu lieben und in mein Herz zu schließen. Gleichzeitig spürte ich eine tiefe Trauer in mir über seine Nicht-Anwesenheit und die scheinbar verpasste Geschwisterliebe. Ich stellte mir vor, wie schön mein Leben wäre, an der beschützenden Seite eines älteren Bruders aufwachsen zu dürfen. Es gäbe keine Langeweile mehr. Die Tage wären ausgefüllt mit schönen Spielen.
Da war der Traum und da war die Wirklichkeit. Ein Bruder, der nicht lebte, mit dem man nicht spielen konnte, von dessen gewesener Existenz nur Geschichten und ein kleines Grab zeugten.
Auf dem Grab hatte man Blumen gepflanzt. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war, an heißen Sommertagen dieses Grab zu besuchen und die Blumen zu gießen. Und ein bisschen von diesem Bruder zu träumen.
Erst später, im Erwachsenenalter, begriff ich, dass es mich und meinen Bruder in dieser Form von Geschwisterlichkeit nie gegeben hätte.
Meine Eltern wollten nur ein Kind, genauer gesagt, meine Mutter wollte ein Kind. Mein Vater wollte überhaupt keines mehr. Für ihn war es die zweite Ehe mit meiner Mutter. Aus erster Ehe hatte er schon zwei Söhne, die aber bei ihrer Mutter aufwuchsen und schon erwachsen waren, als ich geboren wurde. Mein Vater hat sich wohl als Samenspender zur Verfügung gestellt, um die Existenz eines Nachwuchses zu ermöglichen und meiner Mutter ihren ausgeprägten Kinderwunsch zu erfüllen. Wenn mein Bruder überlebt hätte, wäre das Ziel erreicht gewesen und weitere Bemühungen wären eingestellt worden.
Da dem nicht so war, musste medizinische Hilfe in Anspruch genommen werden. Damals gab es schon Hormonbehandlungen. Und so eine erhielt auch meine Mutter. Das Ergebnis war ICH: ein kräftiges, gesundes Mädchen, geboren an einem kalten Tag im Jänner. Es lag meterhoch Schnee. Der Krankenwagen hätte es nicht bis nach Wien in das Sanatorium Hera geschafft, wo sie zur Geburt angemeldet gewesen war. So bin ich zu Hause auf die Welt gekommen, eine Hausgeburt, unter Beisein der örtlichen Hebamme und des Dorfarztes. Sie wäre mit einem Fuß im Grab gestanden, erzählte sie mir einmal. Und Schuldgefühle beschlichen mich. Und der Gedanke, dass der Tod meines Bruders meine Existenz oder Inkarnation erst ermöglichte, tauchte auf.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2020-09-17