Mit Schaudern denke ich an den Vorabend meiner Anatomieprüfung zurück. Dass ich diese Geschichte relativ unbeschadet überstanden habe, führe ich auf meine Jugend zurück.
Mein Vater hatte dieses Familienauge, das mir schon als Kind aufgefallen ist. Die Stellung im Gesicht und das Aufblicken durch die geschwungenen Wimpern sind ein Merkmal mehrerer männlicher Verwandter. Die Augenfarbe spielt dabei keine Rolle. Ein jüngerer Onkel meines Vaters sieht aus wie er, meine Brüder und meine Söhne haben diesen Blick. Durch das Zurücktreten der Wange direkt darunter, erscheint das Auge aufmerksam, die Blicke wirken langgezogen und etwas verhalten, aber scharf und sprühend, wenn der jeweilige Träger die Stimme erhebt oder zum Erzählen ansetzt. Zusammen mit den Augenbrauen ergeben die Augen der Männer unserer Familie etwas Raubvogelartiges. Das Unerwartete daran ist, dass sie bei Bedarf in einen weichen, zarten Schmelz wechseln, dann überraschen sie das Gegenüber. Ja, sie können verzaubern, das bestätigen auch Leute außerhalb der Familie.
Mit meinem Bruder wohnte ich in einer WG während unseres Studiums. Unser Alltag war völlig verschieden, weil ich zügig studierte, mein Bruder aber auch künstlerische Fächer inskribierte und weniger schnell Prüfungen machte.
Nun kam es, dass uns unmittelbar vor meiner stoffreichen Anatomieprüfung unser amerikanischer Cousin Wilhelm besuchte, der in Freiburg Philosophie studierte und ein begabter Musiker war. Er schrieb sogar für Bob Dylan Lieder. Ich hatte ihn seit der Kindheit nicht gesehen und stellte fest: Auch er ist Träger des Familienauges, blau und heller als das der anderen, mit blonden Wimpern. Aber er hatte genau die gleiche Art, den Kopf zurückzuwerfen und einen langen Blick zu versenden.
Am Abend vor meiner Prüfung muss ich kurz weg mit dem Auto. Als ich bald darauf wiederkomme, damit ich lang genug schlafen kann, läute ich vergeblich. Wilhelm hat meinen Wohnungsschlüssel und macht nicht auf. Trotz Schreien und Treten gegen die Tür. Ich bin verzweifelt. Fahre zum Studentenheim, in dem ich meinen Bruder mit seinem Schlüssel vermute. Aber er ist nicht da, sondern mit Kollegen in ein Lokal weitergezogen. Ich bleibe weinend im Mini vor der Haustüre sitzen und versuche, über das Lenkrad gebeugt, wenigstens ein bisschen zu schlafen.
Da erscheint mein inzwischen von anderen Leuten alarmierter Bruder und sperrt auf im fünften Stock. Was kriegen wir zu sehen? Unser Cousin liegt angetan mit meinem Nachthemd wie ein Engel tief schlafend in meinem Bett, und weil er blond ist und langes Haar hat, schreie ich ihn an: „Meier Helmbrecht, raus aus meinem Bett!“ und ziehe ihn am Arm zu Boden. Dann kann ich mich endlich hinlegen.
Zu meiner Prüfung am nächsten Tag trifft er in der Auditoriumsgalerie verspätet ein und sieht mit den speziellen Augen lächelnd herab und meinen Demonstrationen zu.
Ich bestehe mit Auszeichnung, vielleicht hielt er mir schuldbewusst wenigstens die Daumen.
© Barbara Riccabona 2021-11-25