von Sandra E. Mae
“Nimm den da! Ja, genau!” Ich stehe auf den Zehenspitzen und pflücke den Apfel, lächle zufrieden und beiße herzhaft hinein. Er schmeckt genauso gut, wie er aussieht: Saftig, süß und nach Zuhause. Ein richtiger Oma-Apfel eben. So wie alle Äpfel aus Omas Garten schmecken. “Darf ich auch mal beißen?”, fragt Patrick, mein kleiner Cousin, und ich schubse ihn spielerisch aus dem Weg. “Nein! Pflück dir selber einen!” Lachend laufen wir über die Wiese, über die satte, grüne, mit Gänseblümchen und Sauerklee geschmückte Wiese, und wir laufen barfuß, weil es sich so gut anfühlt.
Ich bin 9 Jahre alt. Mit dem saftig-süßen Oma-Apfel in der Hand lasse ich mich ins lauwarme Gras fallen, Patrick neben mir, und wir liegen Schulter an Schulter auf dem Rücken und blicken in den strahlend blauen Himmel hinauf. Es ist Frühsommer, Ende Mai, und alles in Omas und Opas Garten blüht und gedeiht. Die Ribisl, die Vergissmeinnicht, der Schmetterlingsstrauch. Die wilden Erdbeeren, aus denen Oma immer so leckere Marmelade macht. Nicht zu vergessen die Apfelbäume, deren Kronen sich in der leichten Sommerbrise wiegen, hin und her, wie zu Musik. Ich spüre die Grashalme zwischen meinen bloßen Zehen, atme den würzigen Frühjahrsduft ein. Der Apfel ist aufgegessen, der Putz über die Thujen hinüber aufs Feld geworfen, dort, wo frühmorgens die Hasen sitzen und mit den langen Ohren wackeln. Wir schauen Opa zu, der gerade den Rasenmäher aus der Garage holt. Sein edles, schneeweißes Haar glänzt in der Vormittagssonne, und sein gütiger Blick kreuzt den unseren, als er uns durch die dicken Brillengläser hindurch zublinzelt. Ich liebe den Geruch von frisch gemähtem Gras. Und das Summen der Bienen, die sich im Schmetterlingsstrauch tummeln. Es gibt viele Bienen in Omas und Opas Garten, und manchmal fallen sie in den Swimming Pool und Patrick und ich fischen sie mit den Händen heraus, damit sie nicht ertrinken.
“Wollt ihr Opföbackln?“ Omas warme Stimme ist so hell wie die Sonne und hat eigentlich dieselbe Strahlkraft. Man fühlt sich einfach wohl in ihrer Nähe. “Opföbackln”, alt-oberösterreichisch für Apfelpäckchen – ein Mix aus Apfelstrudel und Apfelschlangen – schmecken nur bei Oma so gut. Sie macht alles aus den Äpfeln im Garten: Apfelmus, Apfelkompott, Apfelkuchen – aber die “Opföbackln” schmecken am besten, mit ein bisschen Staubzucker obendrauf. “Ja, bitte!”, rufen Patrick und ich im Chor und richten uns auf. Oma steht zwischen Haustür und Gartenhütte, und wischt sich die faltigen Hände in ihrer geblümten Schürze ab. Wunderschön ist sie – und die beste Oma der Welt.
22 Jahre später ist von Omas und Opas Gartenparadies nicht viel geblieben. Das Gras ist verdorrt, die Apfelbäume abgeholzt, und die Ribisl-, Erdbeer- und Schmetterlingssträucher sind auch verschwunden, gemeinsam mit den Bienen.
Was bleibt, ist die Erinnerung. Diese wunderbare Erinnerung an diesen wunderbaren Garten mit den wunderbaren Großeltern in unbeschwerten Kindheitstagen. Mein Eden.
© Sandra E. Mae 2021-03-03