von Emma Breuninger
Wie in vielen Ländern üblich, so hängt auch in Mexiko in allen staatlichen Büros und Behörden je ein großes Foto des gerade amtierenden Staatspräsidenten an der Wand. In der Zeit von 1988 bis 1994 war dies Carlos Salinas de Gortari.
Mein Sohn, damals 3 Jahre alt, sah diese Fotos, sah den Präsidenten im Fernsehen und auf Plakaten. Der Name Salinas de Gortari war ihm zu lang. Er sagte einfach „Gortaris“, daraus wurde sehr bald „mi amigo Gortaris“ (mein Freund Gortaris).
Am 16. September ist Nationalfeiertag – Unabhängigkeitstag. Am Abend zuvor wird auf dem Hauptplatz, dem Zócalo, groß der Beginn des Unabhängigkeitskampfes von 1810 gefeiert. Der Präsident erscheint um 23.00 Uhr auf dem Balkon des Nationalpalastes, lässt die Unabhängigkeitskämpfer hochleben, ruft dann 3 x „Viva México“, das Volk unten ruft zurück „Viva México“, dann läutet der Präsident die Glocke über dem Balkon, mit der einst der Priester Miguel Hidalgo in seinem Dorf den Unabhängigkeitskampf ausrief. Es folgt die Nationalhymne und ein gigantisches Feuerwerk in den Nationalfarben grün-weiß-rot.
1989 wollten wir auch dabei sein und nahmen unseren Sohn mit. Der hatte den besten Platz auf Papas Schultern. Nachdem alles vorbei war marschierten wir zur nächsten U-Bahn-Station, wurden aber von Polizisten zurückgehalten. Die Limousine des Präsidenten wurde erwartet. Und da kam schon das Auto. Aus irgendeinem Grunde stoppte es, direkt vor uns. Natürlich grüßte der Präsident das Volk draußen. Unser Sohn drehte sich zu uns um und sagte ganz stolz: Mi amigo Gortaris me saludó – mein Freund Gortaris hat mich gegrüßt.
In dieser Zeit absolvierte ich einen Kurs, um Reiseleiterin für die gesamte Republik Mexiko zu werden. Im Frühjahr 1990 hatte ich alle Prüfungen mit guten Noten bestanden. Nun konnte ich meine „Credencial“, meinen Ausweis beantragen. Ich stiefelte also zum Ministerium für Tourismus, füllte dort das Formular aus. Es fehlte nur noch das Foto. Doch der Apparat wollte nicht so recht. Ich sollte eine Woche später wiederkommen. Ok, das machte ich. Wieder nichts. Also nochmal eine Woche warten. Diesmal nahm ich unseren Sohn mit.
Wir mussten ein bisschen warten. Mein Sohn spazierte durch das Großraumbüro, alle fanden ihn so süß (Mexikaner sind äußerst kinderlieb). Dann sah mein Sohn das Foto des Präsidenten. Er rief mir laut zu: Mamá, mira, mi amigo Gortaris – Mama, schau, mein Freund Gortaris.
Großaufgerissene Augen richteten sich auf mich. An diesem Tag erhielt ich meine Credencial.
© Emma Breuninger 2020-09-06