Mein Freund der Wurm

Daniel Fischer

von Daniel Fischer

Story

Es regnete letzte Nacht ziemlich stark, so bin ich wenig überrascht, als mir am Weg zur Busstation ein verirrter Regenwurm auf dem Gehsteig begegnet. Ich hebe ihn behutsam auf, mache wenige Schritte über die Straße und setze ihn in die Wiese. Es dauert nicht lange und er ist unter der Erde verschwunden.

Ich stelle mir vor, wie er schon wenig später seinen unterirdischen Bau erreicht. Zu Hause angekommen ist er erleichtert. Der Schleim, mit dem er seine Tunnel tapeziert hat, erlaubt es ihm, sich hier schneller zu bewegen. Das gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit. Er ist erschöpft von dem Ausflug in die Asphaltwüste und nimmt sich vor, das nächste Mal in die andere Richtung zu fliehen, sollte er mal wieder aus seinem Bau geschwemmt werden.

Um sich zu stärken, holt er sich ein abgefallenes Blatt aus seiner Vorratskammer, in der er besondere Leckerbissen hortet. Nach dem Snack macht er sich wieder an die Arbeit – sein unterirdischer Bau soll heute erweitert werden. Ich bin mir nicht sicher, ob der kleine Wurm weiß, wie wichtig er für den Boden ist, dass ein Großteil der Erde ohne die Belüftung seiner Tunnel hart und kalt, ohne seinen Kot unfruchtbar wäre. Charles Darwin schätzte die Regenwürmer dafür so sehr, dass er ihnen ein ganzes Buch widmete.

Ich sehe vor mir, wie er die ganzen 6 Jahre seines Lebens verbringt. Am liebsten bleibt er unter der Erde, denn um in der Sonne überleben zu können, bräuchte er eine Creme mit einem Sonnenschutzfaktor von mindestens 30. Außerdem droht hier weniger Gefahr vor hungrigen Amseln – der letzten konnte er gerade noch rechtzeitig entkommen, indem er seinen Schwanz opferte, das möchte er nicht unbedingt wiederholen.

Irritiert komme ich mit einem Mal wieder zu mir und blicke auf die vor mir liegende Wiese. Erschöpft setze ich meinen Weg zur Busstation fort. Ich habe gerade ein ganzes Leben gelebt. In der Stadt angekommen, bleibe ich vor der Auslage eines Buchladens stehen. Mein Blick fällt auf ein Buch mit dem Titel „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“.

Ich denke an den kleinen Wurm in seinem Bau und lächle.

© Daniel Fischer 2021-05-13

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