Mein großer Bruder

Barbara Slamanig-Pfund

von Barbara Slamanig-Pfund

Story

Mein großer Bruder ist gegangen. Er ist ins Licht gegangen und hoffentlich jetzt an einem Ort der Liebe, wo alles Eins ist und er die Allwissenheit erfährt, die uns ein Mysterium ist, uns aber eine Perspektive gibt, für unser Dasein nach dem Tod. Auch wenn der letzte Weg immer zu früh erscheint, wenn man selbst zurückbleibt, lasse ich ihn in aller Liebe gehen.

Und diese Liebe ist unendlich groß – von Seiten seiner Kinder, Enkel, Nichten, Neffen, Freunde und von Seiten unseres zweiten Bruders und von mir, seiner kleinen Schwester.

Durch den immensen Altersunterschied von dreiundzwanzig Jahren wurde er viel zu spät zu meinem „großen Bruder“, doch ab dem Zeitpunkt, an dem wir uns als Geschwister gefunden hatten, waren wir uns sehr nahe, auf Augenhöhe.

Bei unseren vielen nächtlichen Gesprächen, bei einem oder mehreren Gläsern Single Malt Whiskey, ließ er mich in seine Seele hineinschauen und so auch manchen tiefen Abgrund erkennen, mit dem er zu kämpfen hatte, seine große Sensibilität und seinen unermüdlichen Versuch, über sein Leben zu reflektieren.

Ich bewunderte seine Kreativität im Umgang mit Farben und Formen und mit seiner großen Liebe, dem Werkstoff Holz. Der Entstehungsweg, von der technischen Herangehensweise bis hin zum fertigen Werkstück, erfüllte ihn und es faszinierte mich, wie er verschiedene Hölzer streichelte und welche Kunstwerke er mit ihnen schuf.

In seiner stoischen Ruhe und der souveränen Art, mit der er Probleme meisterte, war er immer mein Vorbild, auch wenn beides von seinem so weichen Kern ablenkte. Und seine intellektuellen Fähigkeiten, seine wohlbedachte Ausdrucksweise und die feine Klinge seines schier unendlichen Humors haben mir und allen Beteiligten in verschiedenen schweren Lebenssituationen geholfen.

Seine intellektuell überhöhten Kosenamen für mich, die ich unendlich vermissen werde, basierten auf unseren Tiroler Wurzeln. Er sagte nicht „Du Tschurtschn“ – zu deutsch: Tannenzapfen –, wie es in Tirol liebevoll üblich ist, er nannte mich „Du alter Koniferensamenstand“. Es klingt noch immer in meinen Ohren, wie er es zu mir sagte, und ich möchte mir die Erinnerung daran bewahren, wie so vieles andere von ihm auch.

Dass uns ausgerechnet die Atempause der Erde durch Covid-19 die Möglichkeit nahm, uns nach dem Tod seiner drei Wochen vor ihm verstorbenen Frau noch einmal zu umarmen, ist Schicksal. Aber in unseren fast täglichen Telefonaten in dieser Zeit haben wir uns auf alle möglichen Arten gesagt, wie lieb wir uns haben.

Eine ganz direkte Aussage fiel bei unserem letzten Telefongespräch: „Ich hab‘ dich soo lieb, du großer Bruder!“



© Barbara Slamanig-Pfund 2020-04-19

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