von Jette Lübeck
Ich lebe in einem Haus.
Meine eigene kleine Welt.
Mein Haus hat mehrere Stockwerke, einen Keller, Balkone, eine Terrasse und einen großen Garten.
Aber insbesondere hat mein Haus sehr viele Räume.
Einige nutze ich sehr oft.
In anderen hat sich schon eine dicke Staubschicht auf alles gelegt.
Und manche Räume habe ich noch nie betreten oder kenne sie noch gar nicht, weiß nicht wo sie sind, wie ich hineinkomme und was in ihnen auf mich wartet.
Mein Haus hat eine Besonderheit: es verändert sich mit der Zeit.
Türen tauchen plötzlich in Wänden auf und führen in vorher noch nicht dagewesene Räume.
Treppen verschieben sich.
Ich finde Schlüssel zu Türen und Fenstern, finde immer neue Wege in meinem Haus.
In jedem Zimmer finde ich Erinnerungen und Gefühle, die ich über die Jahre gesammelt habe.
Manche hatte ich verlegt oder waren schon fast in Vergessenheit geraten.
Es kann sehr schön, aber auch etwas beängstigend sein, sein eigenes Zuhause immer wieder neu zu entdecken, Türen zu öffnen, zu schließen, Erinnerungen und Gefühle zu finden, auszugraben, von Staub zu befreien.
Häufig lade ich Menschen zu mir ein, manchmal kommen Leute auch einfach so vorbei. Ganz spontan. Unerwartet. Sie treten ein in mein Haus, in mein Leben.
Ich zeige ihnen mein Heim.
Manchen zeige ich nur die Empfangshalle und den Gemeinschaftsraum, der sehr einfach und fast steril wirkt.
Andere führe ich durch größere und kleinere Türen in weitere Räume, die immer persönlicher werden.
Dort unterhalten wir uns, schauen uns gemeinsame Erinnerungen an, manchmal zeige ich ihnen auch kleine persönliche Schätze, Teile meiner Geschichte, meines Lebens, meiner Gefühlswelt.
Manche meiner Besucher bleiben nur auf ein Getränk. Andere bleiben länger. Haben sogar schon ihre Zahnbürste mitgebracht.
Manche hinterlassen Chaos in den Räumen, die ich ihnen gezeigt habe, wenn sie gehen. Einige betreten sogar persönliche Räume ohne mein Einverständnis. Und hinterher sieht es aus als hätte eine Bombe eingeschlagen.
Dann muss ich wieder aufräumen. Die Scherben meiner Gefühle wieder zusammensammeln, zusammenkleben und wieder an den richtigen Platz stellen.
Zum Glück habe ich auch Langzeitgäste, die mir dabei helfen. Die den Klebstoff mitbringen.
Es gibt viele gemütliche Ecken in meinem Haus, in die ich mich zurückziehen kann, in denen ich mich aber auch um andere kümmern kann, wenn sie mich brauchen.
Manche Besucher bringen sogar Schlüssel für Räume mit, die ich noch nie betreten habe. Dort werden dann neue Erfahrungen gesammelt, konserviert und Erinnerungen kreiert und aufbewahrt.
Mein Haus ist riesig. Und es wächst ständig weiter.
Neue Räume, neue Türen, neue Treppen, neue Wege.
Neue Gäste, alte Bekannte, Erinnerungen, Gefühle, Gedanken.
Herzlich willkommen, tritt ein, aber bitte hinterlass kein Chaos!
© Jette Lübeck 2023-01-20