von Erdim Özdemir
Nichts geht mir mehr auf den Sack als die Silvesterplanung. Das neue Jahr rückt näher, das alte Jahr entfernt sich. Na klar, das muss gefeiert werden. Das denke ich auch.Einmal tat ich es mir an, verbrachte Silvester alleine. Ach du heilige Flunder, war das langweilig. Lüge: Es ist kein Tag wie jeder andere. Wie denn auch, wenn ich ihn immer in angetrunkener Gesellschaft mit moderaten Buffets verbracht habe. Unbeliebte Meinung: Silvester ist ein anderer Tag. Und nein, ich will nichts davon hören, wie Zeit nur ein Konstrukt der Gesellschaft sei und man kein neues Jahr für neue Dinge benötige. Ich brauche Zeit, ich finde Zeit geil. Dann soll mir die Gesellschaft dieses Konstrukt geben, auf dem ich zu Organisation und Planung orgasmieren kann. Nur nicht, wenn es um die Silvesterplanung geht. Aber nun gut, die überlässt der Arsch in mir lieber anderen.
Sprechen wir lieber über das Eigentliche. Sobald wir das letzte Blatt vom Kalender abreißen und das Promogeschenk der Apotheke an die Wand nageln – ein Arzneipflanzenkalender, dessen jede Seite einen mit den Muff unterschiedlicher Kräuter einen High macht, müssen wir das Jahr Revue passieren lassen.
War es ein schönes Jahr?Was es ein beschissenes Jahr?Oder gibt man sich mit dem Kompromiss geschlagen, den toxisch-positive, chronisch-pathologisch-lächelnde Insta-Dudes und -Girls einem weiß machen wollen: Es gab Höhen und Tiefen, darum geht es im Leben, die Aussicht in der Höhe zu genießen und in der Tiefe zu lernen, herzchen. Sorry Mama, ich muss ihnen leider zustimmen. Ich gebe nach. Die Mathematik hat die pq-Formel nie richtig angepasst, damit sie einem eindeutiges Ergebnis ausspuckt, ob das Jahr schön oder vollkommen daneben war.
Also mein Jahr war irgendwie schön. Ich bin oft auf die Fresse gefallen. Aber nichts was ein guter Kieferchirurg richten könnte.Habe oft Scheiße gefressen. Nichts was ein gutes Abführmittel herauskatapultiert.Habe mich Hals über Kopf verschossen und wurde erschossen. Paar Pflaster halten das strömende Blut noch zurück.
Ich glaube, das Jahr war schön, weil ich mir eingestehen kann, dass es auch scheiße sein kann. Schöne Momente – an die muss ich mich selten erinnern, da ich sie längst schon weiß. Mein Jahr ist der filterfreie Instagram-Kompromiss aus Scheiße, die ich schlucken durfte, und Scheiße, die mich high machte.
Vielleicht, wenn ich irgendwann im Sterbebett liege, unter einer kuschelig-weichen Tchibo-Bettwäsche, erinnere ich mich dann an 365/366 unvergessliche Momente, ohne auf mein Insta-Feed gucken zu müssen oder mir mein Smartphone vorschlägt. Ich weiß dann von 365/366 wunderbaren einprägsamen Momenten. Und dann sage ich: Gab viel Scheiße, gab viel Glück. So isset nun mal. Aber summa summarum, was man im Alter dann halt so sagt, war mein Leben mindestens ein schönes geiles Jahr.
So werde ich 2022 mal anfangen, meine schönsten Momente aufzuschreiben. Damit ich weiß, wie viele Jahre schöne Momente ich bisher erleben durfte.
© Erdim Özdemir 2021-12-30