von Yasmin Jöhl
Ein Erbschen für Mami. Ein Möhrchen für Papi. Eine Nudel für mich. Verdammt. Ich muss mich zwingen, nicht hinzusehen. Ich schaue nur auf meinen Teller. Ich schaue nur auf meine Erbschen und auf meine Möhrchen. Nein, ich sehe es nicht. Das Sezieren und das Zerstückeln. Das Zermatschen und Verstreichen. Und obwohl ich Scheuklappen aufsetze, gelingt es mir nicht, mich von diesem Verhalten zu distanzieren. Es passiert nicht weit weg in einem anderen Universum. Nein, es passiert am Esstisch in der Klinik, zwanzig Zentimeter von mir entfernt. Rechts von mir. Links von mir. Gegenüber von mir. Und sogar in der Diagonalen. Einatmen. Ausatmen. Yasmin, du machst das besser. Du musst nicht eine halbe Stunde an einem Joghurt löffeln. Du musst die Trauben nicht bis zur Unkenntlichkeit zerstückeln. Du darfst die Butter aufs Brot streichen und musst sie nicht in der Serviette verdammen. Du darfst es dir erlauben. Es ist gut so.
Und so versuche ich tatsächlich, den bis zum Bersten mit Penne gefüllten Suppenteller nicht als meinen Feind zu betrachten. Die Penne. Den Reibkäse. Die Tomatensauce. Jede Komponente liegt da. Vor mir in diesem Suppenteller. Friedlich und ohne Hintergedanken. Und trotzdem: Selbst die etwas gesünderen Anteile dieser Speise – die Gemüsestreifen – erwecken den Eindruck, als würden sie mir im nächsten Augenblick entgegenspringen wollen. Ich rede mir ein, dass jeder einzelne Bestandteil der Nahrungsmittel, egal ob fett-, protein- oder kohlenhydrathaltig, mir nichts Böses will. Wie könnten sie auch. Im Gegenteil: Ich bekomme etwas von ihnen. Energie. Lebensenergie.
Mit jeder Gabel Penne ramme ich meine Magersucht noch tiefer in den Boden. Es fühlt sich in der Tat an, als befände ich mich mitten in einer blutigen Schlacht. Der Teller vor mir will und will sich nicht leeren. Es ist, als würde sich jede einzelne Teigware ohne Erbarmen auflehnen. Fiese Teigwaren.
Irgendwie gelingt es mir schliesslich doch, meine Magersucht so in den Hintergrund zu drängen, dass ich die ganze Portion esse – und zwar ohne all diese hirnrissigen Verhaltensweisen zu kopieren. Trotzdem hat mein liebes Monster nach der letzten Gabel wieder die Überhand. Warum hast du nur? Und Hast du nicht gesehen wie die anderen…? Doch habe ich. Aber ich bin einzig und allein für mich hier. Und dein Bauch? Voll, dick und fett? Das halte ich aus. Ja, aber… Nichts Aber. Es ist gut so. Punkt. Auch vier Stunden später ist das Schlachtfeld noch nicht geräumt. Ich und meine Penne haben auch vier Stunden später noch keinen Frieden geschlossen. Hartnäckig drückt jede einzelne von ihnen von innen an meine Bauchwand. Vehement und ohne Unterlass. Von Minute zu Minute schlimmer. Wir wollen raus! Rufen sie. Nichts da. Ihr bleibt, wo ihr seid. Irgendwo höre ich eine weitere Stimme. Es wird besser. Irgendwann wird es besser. Irgendwann wird es aushaltbarer.
Ich versuche, meinen Bauch zu halten. Ich streichle ihn. Ich rede mit ihm. Liebevoll und wohlwollend. Ich umarme meine Penne, zücke schliesslich das weisse Tuch und unterzeichne den Friedenspakt. Fortan arbeiten wir miteinander und nicht gegeneinander. Fortan sind wir ein Team. Die Penne und ich. Mein Bauch und ich. Mein Leben und ich.
© Yasmin Jöhl 2024-08-29