Mein Lieblingsmensch

Mia Lenze

von Mia Lenze

Story

Mein Opi ist mein Lieblingsmensch.

Was auch immer ich nun hier in diesen Zeilen sage und beschreibe, das dort oben, dieser erste Satz ist die Essenz meiner Geschichte. Das ist es, worum es hier geht. Das ist es, was ihr über ihn und mich wissen müsst.

Mein Opi war für mich schon von Kindheit an der klügste und geduldigste Mensch der Welt. Er erzählte mir Gutenachtgeschichten – und immer waren sie zu kurz. Als ich später zu lesen begann und mir meine Gutenachtgeschichten selbst vorlas, erklärte er mir Worte, die ich nicht kannte. Er ist es, der mir auch das Schreiben nahebrachte. Denn er schrieb selbst gern die Geschichten auf, die er erzählte. Und ich wollte immer so schlau sein, wie er. Er war immer da, bestärkte mich, wenn ich mir unsicher war. Er wusste auf alles eine Antwort und erklärte mir geduldig alles, was ich wissen wollte – und das war viel. Ich war ein neugieriges Kind.

Nun bin ich aber nicht nur Autorin, sondern auch Erzieherin geworden. Dadurch habe ich nun selbst mit neugierigen Kindern zu tun, die meine Geduld nicht selten auf die Probe stellen. Ich konnte also schon feststellen, seine Geduld hat er mir nicht unbedingt vermacht. Und in letzter Zeit geht sie ihm selbst immer öfter verloren. So wie vieles andere auch. Er beginnt, Dinge zu vergessen, die er gerade eben tun wollte. Doch wenn man ihn daran erinnert, wird er wütend, weil er selbst nicht fassen kann, was in seinem Kopf passiert. Er hat bisher keine konkrete Diagnose erhalten, aber die Zeichen sind erkennbar. Es ist, als hätte er plötzlich ein Sieb im Kopf, dessen Maschen immer größer werden.

Vor Kurzem war ich bei der Arbeit besonders gestresst und da kam mir ein Gedanke, der mich seitdem immer wieder beschäftigt: Ich sitze hier und kümmere mich um die Kinder anderer Leute, während mein Opi mich langsam vergisst.

Ich weiß, dass er nicht mich als Person vergisst – zumindest noch nicht – aber vielleicht verliert er bald gemeinsame Erinnerungen oder weiß irgendwann nicht mehr, wie lieb ich ihn habe. Es macht mich traurig und wütend, dass sein Kopf, der ihm doch immer ein treuer Begleiter war, ihn jetzt einfach im Stich lässt. Es fühlt sich an, als würde mein Opi langsam verschwinden, weil die Eigenschaften, die ihn ausmachen, sich aufzulösen scheinen. Und was mache ich? Ich gehe arbeiten, als wäre nichts. Ich lache und spiele mit den Kindern oder ärgere mich über sie, bis ich zu gestresst bin, um noch Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Denn ein Teil von mir will nicht dabei zusehen, wie mein Opi sich in Luft auflöst.

Wie geht man richtig mit dieser Situation um? Denn man möchte einerseits so viel Zeit wie möglich mit den geliebten Menschen verbringen, andererseits aber nicht Zeuge deren Verschwindens sein, um nicht selbst daran kaputtzugehen. So geht es mir damit.

Und trotz all dieser Gedankengänge, ist mein Opi mein Lieblingsmensch.

© Mia Lenze 2025-02-17

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Emotional, Reflektierend, Traurig
Hashtags