Mein Sonnengesang

Christine Sollerer-Schnaiter

von Christine Sollerer-Schnaiter

Story

Liebe Sonne, ich sehe dich nur noch halb und bin doch geblendet. In 30 Sekunden bist du ganz verschwunden – in der Senke zwischen zwei Bergrücken. Ein letzter Strahl während ich diese Zeilen schreibe – und schon fällt der Schatten auf die Erde.

Der Himmel, die Wolken und die höchsten Berggipfel sind noch beschienen. Hinauflaufen möchte ich, um dich noch einmal zu sehen. Aber auch da oben heißt es Abschied nehmen – vielleicht bis morgen, wenn du wieder strahlend aufsteigst.

Sonnenuntergänge sind magisch. Alle Maler und Dichter und Musiker haben sie verewigt und konnten sie doch nicht einfangen. So romantisch, so mystisch, so märchenhaft, so sehnsuchtsvoll und so voll einfacher Realität. Wo immer ich bin, ich muss hinaus, um dich untergehen zu sehen. Wie oft bin ich dir nachgejagt mit dem Auto, zu Fuß oder mit dem Rad – dort, nein da, dort drüben – ein noch besserer Platz. Noch schnell ein Glas Rotwein holen, um dir zuzuprosten und dich zu verabschieden. Urlaubsorte werden danach ausgesucht, ob die Sicht nach Westen frei ist, Essenszeiten abgestimmt.

Bis ein Urlaubserlebnis eine Besinnung brachte. Wir schwammen noch im Pool des Hotels als ich plötzlich wahrnahm, dass die Sonne im Untergehen begriffen war. “Schnell!” – drängte ich meinen Mann und meinen behinderten Sohn, sich anzuziehen und mit mir nach draußen zu kommen. “Aber Mama, die Sonne kommt ja morgen wieder” – sagte ganz nüchtern mein Sohn. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen ob meines Enthusiasmus, und ich musste lachen.

Ja, warum so viel Aufhebens machen um etwas Alltägliches. So viele habe ich gesehen, erlebt, fotografiert, ja sogar gemalt und beschrieben – unzählige in meinem langen Leben.

Nach wie vor aber liebe ich sie und sehe zu bis das Licht erlischt.

In drei Wochen wanderst du den Bergrücken hinauf bis du am 21. Juni wieder umdrehst und deinen Weg über die Berggipfel zurückgehst bis du eines Tages im November nicht mehr hinter dem Wald hervorkommst.

Dann sehne ich mich nach der Sonnenseite – auch wenn dein Erscheinen selbst dort nur von kurzer Dauer ist. Viele, viele Kerzen und der Zauber des heimeligen Advents helfen mir über die dunkle Zeit hinweg, bis du wieder zunimmst an Strahlkraft, Wärme und Herrlichkeit – zu Weihnachten einen Hahnentritt, zu Dreikönig einen Hirschsprung und zu Lichtmess am 2. Februar eine ganze Stund.

Ich habe dich aufgehen sehen auf hohen Berggipfeln, an Meeresgestaden, in Wüsten und über dem weiten Land und es war jedes Mal wie der erste Tag des Lebens, der Schöpfung, des Seins. Ich werfe meine Freude in den Wind und stimme in den Sonnengesang ein.

“Schön erscheinst du im Horizonte des Himmels, du lebendige Sonne, die das Leben bestimmt. Schön bis du, groß und strahlend, hoch über allem Land. Deine Strahlen umfassen die Länder bis ans Ende von allem, was du geschaffen hast”. (Echnatons Sonnengesang)

© Christine Sollerer-Schnaiter 2021-05-31