Blass und blasser wird die Erinnerung an ihn, meinen Vater, dem ersten Mann im Leben einer Frau.
Ich sehe ihn neben mir gehen auf dem Weg zur Schule. Schweigend. Um halb acht Uhr morgens. Er als Lehrer, ich als Schülerin. Das große Schweigen zwischen uns wie eine unüberwindbare Mauer, wie ein tiefer reißender Fluss, wie ein felsiger Weg über einem tiefen Abgrund. Schmerzlich schön neben meinem Vater zu gehen, dem Lehrer, hochgehoben von meiner auf sozialen Aufstieg bedachten Großmutter zu »unserem Herrn«, in unerreichbare Göttlichkeit gedrängt. Das Kind neben ihm in Sprachlosigkeit gedrückt.
In mir ist sprachliche Leere, kein Wort löst sich von meinen Lippen, kein Laut entweicht meiner Kehle. Meine Füße tragen mich weiter neben ihm, dem großen fremden unerreichbaren Vater. Und plötzlich – in das Schweigen hineingesagt, der Satz »Du redest aber heute wieder viel.« Ein Satz, der mich in der Tiefe meiner Seele trifft und die Kluft zwischen meinem Vater und mir noch größer und tiefer werden lässt. Das Schweigen fühlt sich noch kälter, einsamer, endgültiger an. Die spitzen Stacheln der Worte bohren sich noch fester in die blutende Vaterwunde. Das Schweigen breitet sich in mir aus, fließt durch meinen Körper wie ein alles vernichtender Lavastrom, der mich zu Asche werden lässt.
Wann hat das alles angefangen?
Vor meiner Geburt schon, als er, der bereits zweifache Vater aus erster Ehe, keine Kinder mehr in die Welt setzen wollte, der sich »zu alt« für Kinder fühlte, der seine Ruhe suchte, traumatisiert vom Krieg?
Als er mich einmal geschlagen hatte, als ich meine kleinen kindlichen Wünsche noch lautstark hinaus und hinein schrie in die fremde, um sich selber kreisende Welt meines vom Kriegseinsatz verstörten Vaters? Haben sich diese Schläge in mich hinein gebohrt als unvergessliche Erinnerungsspuren, die mich verstummen ließen und eine mögliche Brücke zu meinem Vater hin zerstörten, noch ehe sie fertig gebaut worden war?
Ich weiß es nicht. Vielleicht waren die ständigen Schuldzuweisungen schuld an der Unmöglichkeit einer Kommunikation zwischen meinem Vater und mir. Sein Standardsatz »Siehst du, was du wieder angerichtet hast!«, wenn er und seine Frau wieder einmal bei Tisch in einen heftigen Streit geraten waren, verstörte die kleine Kinderseele in mir. Ich flüchtete in mein Bett, weg von meinem Vater, und wünschte, mich aufzulösen in ein Nichtsein, ein Nicht-geboren-worden-Sein.
Mein Vater, der Zyniker, der auf Kosten seiner Frau und seiner Tochter Witze machte, die nicht lustig waren, mit denen er seine Überlegenheit gegenüber seiner weniger gebildeten Frau und seiner noch kleinen unwissenden Tochter zum Ausdruck brachte.
Mein Vater, der gute beliebte Lehrer, der traumatisierte, latent gewaltbereite, zynische, sarkastische, verletzende Mann. Der erste Mann im Leben einer Frau.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2025-02-15