Er wäre gerne Förster geworden, erzählte mein naturverliebter Vater im Kreis der Familie immer wieder. Er habe nicht Lehrer werden wollen, seine Mutter habe ihn dazu gedrängt, ihn vor die Wahl gestellt: »Lehrer oder Schuster«. So habe er sich für den Lehrberuf entschieden, mehr aus Pflichtbewusstsein seiner Mutter gegenüber als aus innerer Überzeugung und Berufung.
Mein Vater, geboren 1902, besuchte also die Lehrerbildungsanstalt in Wiener Neustadt und war mit kaum 20 Jahren fertig ausgebildeter Volksschullehrer, der nun Anfang der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf die Schülerwelt losgelassen wurde. Zunächst in dem kleinen Dorf Loretto, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Ein kleines Dorf mit vielleicht 500 Einwohnern und dementsprechend wenigen Schulkindern. Alle Kinder zusammen in einem Klassenraum. Abteilungsunterricht. Ungefähr 70 Schüler. Für jede Schulstufe ein anderer Unterrichtsstoff. Mit der Disziplin habe er keine Probleme gehabt, erzählte er. Trat er mit solch einschüchternder Autorität vor seine Klasse? Oder waren die Kinder und Jugendlichen von damals gehorsamer, pflegeleichter, autoritätsgläubiger? Gut, damals war von antiautoritärer Erziehung noch lange nicht die Rede.
Als ich Anfang der Sechziger Jahre die Volksschule in einem kleinen Dorf am Neusiedler See besuchte, waren die Lehrerinnen nicht zurückhaltend mit körperlichen Strafen, ganz zu schweigen von den ständigen verbalen Misshandlungen in Form von lautem Anbrüllen, dass sogar die Wände zitterten. In diesem rauen Klima von Angst, Leistungsdruck und Gewalt ging für sensible Kinder wie mich ein tiefer Riss durch die Seele. Ich hatte in der Volksschule zwei Lehrerinnen und zwei Lehrer, von denen einer mein Vater war. Die Lehrerinnen arbeiteten mit Strenge, Härte und Gewalt. Seltsamerweise waren die männlichen Pädagogen humorvoll und sanftmütig. Sie behandelten die ihnen zur Erziehung anvertrauten Geschöpfe mit Respekt und frei von gewalttätigem Verhalten. Mein Vater unterrichtete mich in der zweiten Volksschulklasse. Damals war er schon am Ende seiner Lehrerkarriere. Mein Schuljahr war das vorletzte. Ich habe ihn immer sehr freundlich, ruhig, gut vorbereitet und humorvoll erlebt. Kein lautes Wort, keine Prügelstrafen. Dafür viel Humor, der den Unterricht auflockerte und erträglicher machte. Auch der Direktor der Schule, den ich auch als Lehrer hatte, war aus demselben Holz geschnitzt. Eine natürliche Autorität ausstrahlend, sodass das In-der-Schulbank-Sitzen fast schon Spaß machte.
Ich habe jetzt vom Anfang und vom Ende der Lehrer-Karriere meines Vaters geschrieben. Im Schuljahr 1948/49 nach fünf Jahren Kriegseinsatz bekam er in einem Dorf am See eine Stelle als Lehrer. Er war ein guter Lehrer. Viele Jahre unterrichtete er die Oberstufe. Wieder Abteilungsunterricht. Als er am Ende seines Lebens schon sehr krank war und das Bett nicht mehr verlassen konnte, besuchten ihn seine ehemaligen Schüler, die inzwischen stattliche Männer geworden waren, Sie erinnerten sich gerne an ihre Schuljahre bei meinem Vater, dem Lehrer. Auch für mich war es eine schöne Zeit, bei meinem Vater, dem Lehrer, Schülerin zu sein.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2025-01-24