Mein zweites Leben

Richie Man

von Richie Man

Story

Als ich realisierte, dass der dritte Weltkrieg ausgebrochen war und ich mich aufgrund meiner Homosexualität in einem Vernichtungslager befand, bekam ich unglaubliche Angst. Ich wusste, dass ich hier nicht mehr lebend herauskomme. Ich ertrank in einem Meer aus Todesangst, Verzweiflung und schwerer Reue über die vielen schlechten Taten meines bisherigen Lebens. „Wenn ich schon sterben muss“, dachte ich, „so will ich selbst bestimmen, wie ich gehe.“ Ich hörte auf zu Essen und Trinken, stand nur noch da mit dem Blick auf den Boden. Plötzlich kamen sie, die Nazis. Zu viert führten sie mich in mein Bett. Ich wusste, dass nun meine letzte Stunde geschlagen war und ich wehrte mich auch nicht mehr. Ich war erstaunlich gefasst über die Tatsache, dass dies meine letzten Momente waren. Man drehte mich zur Seite und spritze mir die Todesspritze ins Fleisch.

Ich erwachte in einer Psychiatrie, noch etwas unklar darüber, was mit mir passiert war. Allmählich erkannte ich, dass ich nicht nur meinen Partner und meine Freunde, sondern auch meinen Verstand verloren hatte. Wow, was für ein hartes Feedback vom Leben! Ich schien wohl alles falsch gemacht zu haben. Die Einzigen, die noch für mich da waren, waren meine Eltern. Sonst war alles verloren. Mein altes Leben war Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll, nur wo hatte es mich hingeführt? Ich befand mich nun in den tiefsten Abgründen des menschlichen Daseins. Ich sah nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder ich bringe mich um, oder ich verwende all meine Kraft, um da irgendwie wieder herauszukommen. Es war ein tägliches Ringen um mein Leben. Die Todessehnsucht stand mir ins Gesicht geschrieben. Doch irgendwo ganz hinten im letzten Eck meines Gehirns war da etwas, eine kleine Hoffnung, kaum spürbar. Sie sagte mir, dass da noch etwas auf mich warten könnte. Etwas, wo mir der Blick darauf noch verwehrt ist. Etwas, was mich im Nachhinein sagen lässt: „Ah, dafür war das also gut.“ Und so entschied ich mich für das Leben!

Was folgte, waren Jahre der Analyse, Konfrontation und Aufarbeitung von Dingen, die ich durch meinen Drogenkonsum immer erfolgreich weggeschoben hatte. Es flossen Tränen, viele Tränen. Der Schmerz, den ich nun endlich zu fühlen wagte, brachte mich mir selbst so nahe wie nie zu vor. Die zahlreichen Therapiestunden weckten mein Interesse für die Psychotherapie. So begann ich zunächst Sozialpädagogik und Philosophie zu studieren, worauf eine Ausbildung zum Psychotherapeuten folgte. Ich lernte viele neue Menschen kennen, darunter gute Freunde und meinen liebsten Partner, mit dem ich nun seit neun Jahren in einer glücklichen Beziehung bin. Und hier ist es nun, mein zweites Leben, wie es unterschiedlicher zum Ersten nicht sein kann. Mein altes Ich wurde in einem Vernichtungslager ermordet. Mein neues Ich wurde in einer Psychiatrie geboren. Wie alle Frisch-geborenen hatte ich nur meine Eltern, sonst nichts. Mit tiefer Demut blicke ich auf mein neu geschenktes Leben. Nun ergibt alles einen Sinn.

© Richie Man 2021-02-16

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