Meine 1. Demonstration 1961

Brigitte Böck

von Brigitte Böck

Story

1961 wurde die Mauer gebaut, ich befand mich mit einer christlichen Jugendgruppe auf einer Reise im Teutoburger Wald. Diese Information schockte uns sehr und unsere Jugendleiterin organisierte sofort alles, um schnell nach Berlin zurück zu kommen. Es lag damals eine große Kriegsangst auf uns allen und wir wollten bei unseren Familien sein.

Nach der Scheidung meiner Eltern wohnten wir auf der Westseite direkt an der Bernauer Straße, sahen Menschen aus den Fenstern springen und es lag Angst, Panik und Fassungslosigkeit auf der Stadt. Meine Brüder lebten in Wohngemeinschaften, engagierten sich politisch, ich blieb mit meinen beiden jüngeren Geschwistern bei unserer Mutter. In uns Kindern erwachte eine große Aufbruchsstimmung, Widerstand und Kreativität. Durch die langersehnte Abwesenheit des strengen Vaters brach ein Gefühl von nie gekannter Freiheit durch. Oft nahmen mich meine Brüder mit zu politischen Diskussionen, ich fühlte mich ernst genommen und war dabei von einer erschreckenden Naivität.

So schlossen wir uns einer Großdemonstration an und ich war stolz, dass meine Brüder mich mitnahmen. Wir liefen in der ersten Reihe, durch die Parolen, die Gemeinschaft und dem Gefühl, „wir retten die Welt“ verlor ich jedes reale Gefühl und brachte mich in große Gefahr. Als die ersten Wasserwerfer anrollten, und viele Menschen den Rückwärtsgang einlegten, marschierte ich in der ersten Reihe „mutig“ weiter, bis mich der erste Wasserwerfer voll erwischte. Ein heftiger Schmerz warf mich um und spülte mich mit enormer Kraft in den Straßengraben. Zwei Polizisten packten mich, mein Bruder rannte auf mich zu und trag mich geistesgewärtig aus der Gefahrenzone. Ich besaß keine Schuhe mehr, war durchnässt bis auf die Knochen und hatte mir den Fuß verstaucht.

Er brachte mich schimpfend nach Hause, Mutter ließ mir ein Bad ein, kochte heißen Tee und lauschte unserer Geschichte, sie war mächtig stolz auf uns. Dann legte sie sich in ihrem Zimmer schlafen. Später kam mein anderer Bruder und brachte einen „Schwarzen“ mit und machte ihm ein Bett auf der Couch. Noch lange Diskussionen, dann fielen wir alle in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.

Am nächsten Morgen saßen wir im Wohnzimmer bei erneuten Gesprächen, meine Mutter kam ins Zimmer, sah den Mann auf der Couch, zuckte zusammen, war zunächst völlig sprachlos. Wir waren durch unseren faschistischen Vater total ausländerfeindlich erzogen und auch an unserer Mutter war die Prägung nicht vorbei gegangen. Dann ging Mutter auf den Fremden zu , wünschte ihm einen guten Morgen und fragte, ob er einen Kaffeee möchte. Sie war über sich selbst hinausgewachsen durch die Liebe zu ihren Kindern.

Beim gemeinsamen Frühstück saß sie lächelnd dabei, stellte Fragen und sog diese Stimmung ganz in sich ein. Auch in ihrer weiteren Entwicklung orientierte sie sich an ihren Kindern und legte viele Vorurteile ab. Sie war leider schon zu krank, um für ihr eigenes Leben noch einmal einen neuen Start zu wagen.

© Brigitte Böck 2020-10-03