von Doris Neidl
Ich habe meine Oma als eine in die Ferne blickende Frau in Erinnerung. Dabei hatte sie immer ein Auge geschlossen. Ich glaube, aus Loyalität zu ihrem Sohn, der mit sechs Jahren sein Auge verloren hatte. Ich glaube sie wollte einfach wissen, wie es ist nur mit einem Auge zu sehen.
Meine Oma war eine unnahbare Frau, kuscheln und spielen gab es da nicht. Aber sie kochte einem gleich immer ein Naturschnitzerl, weil sie ja Köchin war. Sie hatte ein Gasthaus und eine Fleischerei. Ich hatte nie verstanden, warum sie die leeren Sardinendosen immer auf die Fensterbank stellte. Am Sonntag saß sie immer mit der Frau Roithmeier auf dem Bankerl im Hof. Die zwei konnten sich nicht leiden, aber sie waren ein Herz und eine Seele. Oma wurde 89 Jahre.
Am Morgen ihres Todestages ging sie noch in die KĂĽche, um zu kochen , doch fĂĽhlte sich nicht gut. Als der Doktor kam, streckte sie ihm die Hand hin, sagte: „GrĂĽĂź Gott Herr Doktor.“, drehte sich zur Seite und starb. Sie starb um 6 Uhr morgens, doch man holte sie erst am Abend ab. Alle ihre sieben Kinder und Enkel hielten Totenwache. Als ich kam, war sie noch ganz warm. Ich setzte mich zu ihr und hielt noch ihre Hand. Unter ihrem Kopfpolster lag das Buch „Wanderungen in den Karawanken“. Ich finde es schön, dass sich jemand mit 89 Jahren fĂĽr die Wanderungen in den Karawanken interessierte. Noch dazu, wo sie immer nur in der KĂĽche stand. Als man sie dann Abends mit dem Leichenwagen, ganz langsam aus dem Hof fuhr, standen die „Fleischburschen“ mit ihren weiĂźen, blutbespritzten PlastikschĂĽrzen und die Angestellten des Gasthauses Spalier und verbeugten sich. Mein Onkel Friedl rief noch einmal “ Maamaa“. Ich werde diesen Moment nie vergessen. Bei ihrem Begräbnis waren um die 2000 Leute, als wäre die Bundeskanzlerin gestorben.
Meine Oma war auch ein wenig oberflächlich. Es war ihr sehr wichtig, dass der Mann, den man heiratet, gutaussehend und groß war. Groß war für sie das Wichtigste, weil alle in unserer Familie klein sind. Meine Mitbewohnerin Donna hat einmal zu mir gesagt: What? Your mother ist shorter than you? So als wäre ich so kurz, dass man gar nicht mehr kürzer sein kann. Mit meiner ersten großen Liebe war Oma sehr zufrieden, weil er doppelt so groß wie ich war.
Ich glaube, sie hätte auch meine zweite große Liebe Khalil gemocht. Auch er ist gutaussehend und groß. Manchmal sagte ich zu ihm: You are so beautiful. Forget about your character, it sucks, but I don’t care. Er lachte nur und anwortete: Same here.
Foto: Aus “Der rote Faden”, 99 Stickereien, Doris Neidl
© Doris Neidl 2021-03-04