Mein Onkel Toni war groß und stark. Wenn er zur Tür hereinkam, stürmte ich auf ihn los und umarmte ihn um den Bauch herum mit beiden Armen ohne ihn ganz umfassen zu können. Lachend hob er mich hoch und holte auch schon das ersehnte Zuckerlsackl aus der Tasche. Zu Allerheiligen kamen alle Brüder aus der Pflegefamilie meiner Mutter, um ihrer Eltern zu gedenken und ich freute mich sehr auf sie. Toni und Franz lebten in Innsbruck und waren Polizisten.
Wenn Toni von seinem Dienst im und rund um den Bahnhof in Innsbruck erzählte, lauschte ich voll Staunen. Damals war der Bahnhof die ‚Winterschlafstätte‘ der Sandler und es herrschte eine freundschaftliche Beziehung zwischen Polizei und Obdachlose. Man legte sich gegenseitig nichts in den Weg. Drogendealer gab es noch keine, dafür spielten Schnapsflaschen eine große Rolle.
Toni und Franz sangen beim Polizeichor in Innsbruck und ich liebe diese Männerlieder immer noch – sie haben etwas so kraftvoll Melancholisches in tiefen, oft molligen Tonlagen. Leider weiß ich nur mehr Fragmente wie ‘Es waht da worme Wind’ – der berüchtigt berühmte Innsbrucker Föhn. Oder ‘Wenn nachts die Bäume rauschen im tiefen heilgen Wald’ was in meiner Vorstellung wohl mit dem Film ‘Und ewig singen die Wälder‘ zu tun hatte und an nordische Schwermut erinnert.
Tonis Geschichte war keine leichte. Als er vom Krieg zurückkam, hatte seine wunderschöne Frau einen anderen Mann. Er konnte ihr nicht verzeihen und blieb lebenslang unverheiratet. Später hatte er jedoch eine Lebensgefährtin, die das Lokal ‘Laterne’ betrieb – nicht nur ein romantischer Name, sondern auch ein stimmungsvolles Gasthaus.
Onkel Toni ist mit 60 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, und ich war sehr traurig. Da passierte etwas Eigenartiges. In der Nacht vor dem Begräbnis konnte ich nicht schlafen und drehte am Radio herum, um irgendeine Musik zu finden. Radiohören war kompliziert, denn die Sender krachten entweder oder die Musik verschwand und kam langsam in Wellen. Der ‚Saarländische Rundfunk‘ funktionierte am ehesten und plötzlich hörte ich dieses mein ‘Onkel Toni-Lieblingslied’: „Wenn nachts die Bäume rauschen im tiefen heilgen Wald“ und dann entschwand es wieder. Ich weiß nicht, ob es eine Sinnestäuschung war, ich weiß nur: Es war beglückend bei aller Wehmut.
Mein Onkel Franz war das Gegenteil von seinem Bruder Toni: schmal, fast zierlich und immer ein bisschen kränklich. Er lebte sehr zurückgezogen mit seiner Frau Elsa. Kinder hatten sie zu ihrem Leidwesen keine. Als ich auch in Innsbruck wohnte, besuchte ich ihn mit meinem späteren Mann und es wurde ein Abend voll Musik und Lachen.
Als er erfuhr, dass die Schwester von Heinz in Sorrent lebte, sang er das wunderbare Lied ‘Ritorno a Surriento’ eine Hommage an diese schöne Stadt am Golf von Neapel. Daraufhin waren wir nicht mehr zu halten und schmetterten: ‘Mia bella Napoli’, ‘Santa Lucia’, und natürlich ‘Die Caprifischer’. Hilde Eppensteiner, die Mundartdichterin, war auch zu Gast und wir verbrachten einen unvergesslichen Abend.
© Christine Sollerer-Schnaiter 2023-04-17