Meine Mutter 4: wieder im Erziehungsheim

Libero

von Libero

Story

Meine Mutter war kurz davor, die 5.000 Schilling für die Krebsbehandlung ihrer Adoptivmutter beisammen zu haben, als sie auf der Straße aufgegriffen und vom Jugendamt wieder in ein Heim gesteckt wurde. Wegen ihrer Vergangenheit war sie schon aktenkundig und kam somit diesmal nach Wiener Neudorf in eine Erziehungsanstalt, die für ihre brutalen Erziehungsmethoden bekannt war, die „Bundesanstalt für erziehungsbedürftige Mädchen“, geführt von den „Schwestern vom Guten Hirten“. So wie die Anstalt „Kaiser-Ebersdorf“ für Buben galt dieses Heim als „Endlager“ für aufmüpfige Jugendliche.

Unter Mitwirkung des prominenten Psychiaters Erwin Ringel wurden die Mädchen dort entwürdigt. Beispielsweise wurden sie dazu gezwungen, ihr Erbrochenes wieder zu essen. Wie im Gefängnis gab es die Älteren, die Frischankömmlinge brutal misshandelten – einfach, weil es bei ihnen auch so war. Die Nonnen sahen weg, weil sie sich bei deren Einschüchterung somit selbst nicht die Hände schmutzig machen mussten. Waren sie später noch immer widerspenstig und ungehorsam, kamen sie in die „Korrektion“. Das war ein Verlies im Keller, wo man Strafen in Einzelhaft absitzen musste. Der Raum war kalt, dunkel und ohne Möbel. Abends wurde ein feuchter Strohsack hineingeworfen, der in der Früh wieder abzugeben war.

Die Insassinnen mussten den ganzen Tag schwere Arbeit leisten. So gesehen war diese Anstalt ein Zwangsarbeitslager, in dem einem die Identität geraubt wurde. Den persönlichen Namen mussten die Mädchen beim Eintritt abgeben, genauso wie die eigene Kleidung. Stattdessen mussten sie in die taubengraue, kratzige Anstaltskleidung schlüpfen. Pro Woche gab es eine Unterhose, die am Ende kontrolliert wurde, ob sie eh nicht schmutzig ist. Warmwasser beim Duschen war die Ausnahme. Wenn es Besuch der Behörden gab, wurde alles schön hergerichtet und es gab gutes Essen – aber nur dann. Der Alltag bestand aus Gebet, harter Arbeit und Erniedrigung mit den Worten: „Wir können mit euch machen was wir wollen, denn euch will draußen eh niemand, sonst wärt ihr nicht hier.“

Als kurze Zeit später die Adoptiv-Großmutter stirbt, bekommt meine Mutter nur einen Tag Ausgang für das Begräbnis. Während ihre Adoptivmutter oft geschäftlich zu tun hatte, war die Oma Hauptbezugsperson, die fast immer für das Mädchen da war.

Mit ihrer Großjährigkeit wurde meine Mutter zum 19. Geburtstag in die Freiheit entlassen. Ihrer Adoptivmutter ging es zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich wegen der Krebserkrankung schon sehr schlecht und das Haus war noch immer nicht fertig gebaut. Ganz im Gegenteil, weil es unfertig war, wurde es schon wieder baufällig. Doch statt Geld für die Instandsetzung gab es nur Schulden. Vier Monate nach der Entlassung stirbt auch die Adoptivmutter. Die Nacht nach dem Begräbnis übernachtete meine Mutter am Friedhof neben dem Grab der beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben, ohne Zukunftsperspektive und ganz auf sich allein gestellt.

© Libero 2020-11-08

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