Sie war schon da, als ich geboren wurde und das gibt mir das Gefühl, dass sie mich am längsten kennt. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie es für sie war, als ich zu ihrer Familie dazu kam. Hat sie sich auf mich gefreut? Ich stelle gerade fest, wir haben nie darüber geredet.
Sie war immer die Brave, die Ordentliche und die Ruhigere. Als Kind wurde ich an ihr gemessen. Ich habe den strengen Vergleich von Mama nie bestanden. Ich war immer die Zweite. Aber ich muss gestehen, dass mir das egal war. Es gab meinerseits kein Bestreben, meiner Schwester diesen Rang abzuerkennen. Ich war nur eifersüchtig, wenn Mama mehr Zeit mit ihr verbrachte.
In meinen Erinnerungen scheint sie wenig auf. Sie ist knapp fünf Jahre älter und hatte meist andere Interessen. Wir haben kaum miteinander gespielt. Ich trug ihre Kleidung, aus der sie heraus gewachsen war. Daran war ich gewöhnt, das war damals so. Später freute ich mich sogar, wenn sie sich etwas Schönes gekauft hatte. Dann gab es einen Freund an ihrer Seite. Plötzlich war da jemand, mit dem sie auch unser Zimmer teilte. Ich muss damals eine kleine gemeine Kröte gewesen sein, denn immer, wenn sie sich zurückgezogen hatten, musste ich partout ins Zimmer. Ich weiß nicht, was mich damals getrieben hat, so garstig zu sein. Unsere Wohnung war für damalige Verhältnisse groß und es war seinerzeit ein Luxus, wenn Kinder ein eigenes Zimmer hatten. Wir bekamen das größte Zimmer, erklärte Mama immer mit Stolz.
Dann bekamen sie und ihr Freund ihre erste gemeinsame Wohnung. Endlich ein eigenes Zimmer! Meine Vorfreude war unermesslich groß. Aber als ich erstmals als alleinige Besitzerin in MEIN Zimmer ging, verspürte ich eine schmerzliche Leere. Sie war weg. Für immer. Nichts im Zimmer erinnerte mehr an sie. Insgeheim wünschte ich sie mir zurück. Ich war nun in der Pubertät und dass ich nun mit unseren Eltern „allein“ war, erfüllte mich mit Unbehagen. Meine Schwester und ihr Freund besuchten uns zwar regelmäßig, aber es war jetzt anders. Oft lag ein Geldschein von ihr versteckt auf meinem Schreibtisch. Ich weiß nicht, ob ich mich je dafür bedankt habe. Ihre Finanzspritze rettete mich regelmäßig über meine bescheidenen finanziellen Verhältnisse als Jugendliche hinweg, denn mein Taschengeld reichte maximal bis zur Monatsmitte.
Gemeinsam wurden wir älter und erfahrener. Manchmal stritten wir so heftig, dass wir monatelang nichts voneinander hörten. Aber immer haben wir wieder zueinander gefunden und uns versöhnt. Wir waren nie nachtragend, obwohl wir manchmal gar nicht fein miteinander umgegangen sind. Seit auch Mama tot ist, gibt es „unsere“ vierköpfige Familie nicht mehr. Das schweißt uns zusammen und macht das Band zwischen uns fester. Wir haben über die Jahre hinweg gelernt, respektvoller miteinander umzugehen. So verschieden wir beide sind, so mündet doch das große Gemeinsame in unseren Wurzeln, deren Geheimnisse nur wir beide kennen und verstehen. Danke liebe Schwester, dass es DICH für mich gibt!
© Monika Peer-Hochstöger 2022-09-14