Meine Schwester

Ricarda Gross

von Ricarda Gross

Story
Frankfurt am Main

Meine Schwester hat das schönste Lachen der Welt. Es bringt ihre himmelblauen Augen zum Strahlen und ihre vielen kleinen LachfĂ€ltchen um den Mund zum Vorschein. Wenn Anna lacht, mĂŒssen alle mitlachen. Es ist ansteckend und lĂ€sst einen die eigenen Sorgen vergessen. Ihre LachfĂ€ltchen kann ich immer noch sehen, wenn ich genau hinschaue. Aber dieses ansteckende Lachen, das ich so sehr an ihr liebe, habe ich schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen und mit einer leisen Sehnsucht wundere ich mich, ob ich es wohl jemals wieder sehen werde.
Ein Klopfen reist mich aus meinen Gedanken. Verwundert hebe ich meinen Blick, der bis jetzt meiner schlafenden Schwester gegolten hat.
Anna liegt alleine in diesem großen Krankenhauszimmer und die Ärzte waren schon vor einigen Stunden da und konnten uns nichts Neues erzĂ€hlt. Annas Krebs habe sich nicht verschlimmert, aber auch nicht verbessert und man mĂŒsse jetzt einfach mal den Rest der Chemotherapie abwarten, sagten sie. Die gefĂŒhlt hundertste seit ihrer Krebsdiagnose vor einem Jahr. Anna hat tapfer gelĂ€chelt und genickt, ich hingegen konnte nichts sagen. Eigentlich hat Anna keine Kraft mehr fĂŒr eine weitere Chemotherapie, aber sie will auch nicht aufgeben. Ich bewundere sie fĂŒr ihren Mut und Durchhaltevermögen, bin ich doch lĂ€ngst am Ende meiner KrĂ€fte und weiß nicht mehr, wie ich gemeinsam mit ihr weiterkĂ€mpfen soll.
Die TĂŒr öffnet sich und eine junge Schwester tritt herein. In ihren HĂ€nden hĂ€lt sie ein Tablett, auf dem ein Teller mit Brot, Belag und Obst darauf liegt. „Es gibt Abendessen.“ Sie lĂ€chelt mich an, aber es erreicht nicht ihre Augen. Sie sieht so mĂŒde und erschöpft aus, wie ich mich fĂŒhle. Als sie das Abendessen erwĂ€hnt, springe ich entsetzt von dem Stuhl, auf dem ich bis eben neben meiner Schwester gesessen habe. Gleichzeitig wandert mein Blick zur Uhr, die direkt neben dem Fernseher an der gegenĂŒberliegenden Wand des Bettes hĂ€ngt. Es ist achtzehn Uhr. Ich sitze schon seit sechs Stunden hier, viel lĂ€nger, als ich eigentlich wollte. Ich habe vollkommen verdrĂ€ngt, dass ich noch ein Leben außerhalb des Krankenhauses habe. All die Sachen, die zu Hause darauf warten erledigt zu werden, strömen erbarmungslos auf mich ein und ich muss all meine Kraft aufbringen, um ruhig weiterzuatmen und nicht die Krise zu kriegen. Es ist beinahe jeden Tag so, nur selten schaffe ich es, alles zu erledigen und rechtzeitig im Bett zu liegen.
„Meine Schwester schlĂ€ft“, erwidere ich. Wie ich aus mittlerweile unzĂ€hligen Krankenhausbesuchen weiß, wird sie das Abendessen trotzdem auf den Nachttisch stellen. „Macht nichts“, sagt die Schwester da auch schon. „Wenn sie aufwacht, hat sie vielleicht Hunger.“ Oder auch nicht, denke ich, denn der Appetit meiner Schwester ist kaum noch vorhanden. Trotzdem bedanke ich mich höflich, schlĂŒpfe in meine Jacke und schultere meinen Rucksack. „Ich wĂŒnsche Ihnen noch einen schönen Abend“, verabschiedet sich die Schwester. „Ich komme mit“, sage ich und schließe mich ihr an.
Als ich aus dem Zimmer trete, beobachte ich selbstvergessen, wie die TĂŒr langsam ins Schloss fĂ€llt und mich wieder fĂŒr einige Stunden von Anna trennt.


© Ricarda Gross 2024-03-03

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Hoffnungsvoll