von Seelenworte
Schon lange wollte ich eine Geschichte über meine liebe Tante Rosa schreiben. Seit drei Jahren besuchte ich sie regelmäßig im Alterszentrum. Anfangs monatlich, später wöchentlich. Ich spürte ihre Weisheit und saugte ihre liebevolle Präsenz in mich auf. Als Kind war ich oft bei meiner Tante zu Besuch. Ich habe schöne Erinnerungen an die Zeit. Dann bin ich ihr entwachsen und habe erst wieder zu ihr gefunden, als vor drei Jahren mein Vater starb und ich das Bedürfnis hatte, meine Tante zu besuchen. Sie hat sich so gefreut und mich mit offenen Armen willkommen geheißen. Es gab keine Vorwürfe oder Fragen, wo ich all die Jahre war. Sie hatte ihr Leben, ich meines. Jetzt im Alter war sie dankbar für jeden Besuch, sie hieß mich immer freundlich willkommen. Wir gingen bei schönem Wetter nach draußen oder tranken einen Kaffee in der Cafeteria. Wir sprachen über frühere Zeiten und über das aktuelle Geschehen. Wir waren einander sehr verbunden und teilten die Liebe zu spirituellen Themen. Sie war ein offener Mensch und sprach ganz selbstverständlich über den Tod und ihren nahenden Abschied.
Jetzt schreibe ich diese Geschichte erst, als meine liebe Tante schon verstorben ist. Wenn ich diese Zeilen schreibe, erscheint es mir noch unwirklich. Obschon wir sie heute Morgen in der Urne zu ihrem Grab begleitet haben. Gerne hätte ich die Geschichte vor ihrem Tod geschrieben und sie ihr vielleicht noch vorgelesen. Ich bin sehr glücklich für meine Tante, dass sie friedlich sterben konnte, so wie sie es sich gewünscht hat. Jetzt gehören ihr diese Zeilen des Abschieds und der Dankbarkeit. Soviel hat sie mich gelehrt. Über Demut und Zufriedenheit, aber auch darüber, das Leben zu lieben und die Neugier nie versiegen zu lassen.
Die Trauer füllt mein Herz, wenn ich an ihr Lachen denke. Wie wenig es brauchte um ihr ein Lächeln zu entlocken. In meinem Herz ist auch eine große Dankbarkeit, dass ich ihr einen Tag vor ihrem Tod eine gute Reise wünschen konnte. Sie ein Stück begleiten in diesem Abschiedskampf, wo das Leben noch einmal durchlebt wird. Um Hilfe gerufen hat sie und ich konnte ihre Hand halten und sagen: „es ist alles gut, Tante Rösti“. Und sie hat sich beruhigt und genickt. Tränen fließen und bringen Heilung für dieses Leben, dass nun auf irdische Weise zu Ende ist. Einen Menschen auf seiner letzten Reise zu begleiten ist ein großes Geschenk. Der Übergang von Leben und Tod trägt eine Magie in sich, die sich kaum in Worte fassen lässt. Es sind Momente, in denen es keiner Worte mehr bedarf, sondern nur noch reiner Präsenz und Liebe.
Nun geht mein Leben weiter ohne Tante Rosa. Auch sie hat mir eine gute Reise gewünscht. Gesundheit, Zufriedenheit und das alles nach meinem Wunsch gelingen möge. Das freut mich sehr. Bewusst will ich mein Leben gestalten und das Andenken an Rosa in meinem Herzen tragen. Der Tod macht mir das Geschenk der Lebendigkeit.
© Seelenworte 2023-07-04