von Otto Köhlmeier
Bisher habe ich noch mit keinem Menschen darüber gesprochen. Aus Angst? Aus Scham? Aus falsch verstandener Rücksichtnahme? Ich weiß es nicht. Jedenfalls trage ich das Geheimnis seit zehn Jahren nun schon mit mir herum. Das heißt: ich trage es nicht, ich schleppe es, ziehe es hinter mir her, quäle mich damit ab. Denn das Geheimnis hat nichts Geheimnisvolles, nichts Mysteriöses oder Rätselhaftes, sondern ist einfach nur grauslich.
Wenn ich mich damals meiner Mutter anvertraut hätte, wenn ich ihr erzählt hätte, was geschehen ist, sie hätte mir wahrscheinlich eine Ohrfeige gegeben und gesagt: selber schuld! Und einmal mehr hätte sie mir vorgehalten, dass ich zu kurze Röcke trage, mich zu sehr schminke, viel zu aufreizend daherkäme.
Und hätte ich es gewagt, zur Polizei zu laufen: die hätten mich doch nicht ernst genommen. Ich, das neunzehnjährige Mädchen. Und er, der angesehene Jurist, ein Ehrenbürger der Stadt.
Selbst dem Mann, mit dem ich seit nun sechs Jahren verheiratet bin und dem ich an sich so gut wie alles sagen kann, selbst ihm habe ich nicht verraten, was damals geschah.
Ich hatte gerade die Handelsschule hinter mir und durfte ein Praktikum in der Anwaltskanzlei Müller, Müller & Söhne machen. Mit der Aussicht auf eine Fixanstellung als Sekretärin. Ein Glück, wie mir rundum gesagt wurde. Wo gibt es das schon?! Welches junge Mädchen hat schon so eine Chance?!
Müller, Müller & Söhne bestand nur noch aus den Söhnen. Der eine Müller-Vater war schon vor Jahren verstorben, der andere längst in Pension. Die beiden Söhne Manfred und Michael leiteten und lenkten die Kanzlei. Manfred, der ältere. Michael, der jüngere. Wobei selbst der jüngere bereits auf die sechzig zuging.
Beide Doktor Müller waren keine wirklich attraktiven Männer. Gepflegt zwar. Jeden Morgen mit frischem Hemd, Krawatte, Anzug und sauber geputzten Schuhen in der Kanzlei erscheinend. Beide aber recht fettleibig, mit ziemlich großen Bäuchen und kaum mehr Haaren am Kopf. Aber sie strahlten Autorität aus. Und Macht. Große Macht. Sehr große.
Es war an meinem vierten Arbeitstag, als mich Dr. Michael Müller in sein Büro kommen ließ. Bevor ich noch richtig “Guten Morgen” sagen konnte, bat er mich, die Türe hinter mir zu schließen und zu ihm, zu seinem Schreibtisch zu kommen. Ich tat, wie er mir befahl. Und er befahl mir einiges. Es war schrecklich. Ich hatte nicht viel Ahnung und Erfahrung im Bereich der Sexualität. Wohl wehrte ich mich, wendete mich immer wieder ab. Aber er war stärker, viel stärker. Nicht nur körperlich. Auch was die geistige Präsenz, die Autorität, sein Chefsein anbelangte. So nahm ich schweigend hin die Demütigungen. Tat, als wäre nichts gewesen, während ich mich wieder anzog und auf sein “du kannst jetzt gehen” das Büro verließ. Erst auf der Toilette, wo ich mit Taschentüchern meine Scham zu säubern versuchte, begann ich zu heulen.
Später weinte ich nie wieder über die Sache. Aber mein Magen dreht sich jedesmal, wenn ich nur daran denke.
© Otto Köhlmeier 2021-09-08