von Jürgen Heimlich
Gestern war ein besonderer Tag. Ich wurde mir meiner Selbst bewusst. Und das kam ganz plötzlich. Ich spielte mit meinen Plastikrittern Turnier. Meine Ritterburg diente als prächtige Kulisse. Da hörte ich auf zu spielen und fragte mich: „Diese Ritter sind Figuren der von mir erfundenen Welt. Und wer bin eigentlich ich?“ Ja, ich existiere und wenn das kein Grund zum Jubilieren ist! Ich frage mich jetzt, warum die Erwachsenen oft so griesgrämig drein schauen. Sollten sie nicht glücklich sein ob ihrer Existenz?
Den Schub zur Bewusstwerdung meiner Selbst habe ich vielleicht beim Begräbnis meiner Tante bekommen. Eine ältere Dame, die ich nicht kannte, hat mich gefragt: „Willst du deine Tante noch einmal sehen?“ Das war für mich als kleiner Bub eine große Ehre! Ich habe mich dagegen entschieden, doch es stieg das Gefühl einer Zusammengehörigkeit in mir auf. Ich war Teil des Ganzen. Die Erwachsenenwelt und die Kinderwelt gehören zusammen. Es darf auch gar keine Trennung geben.
Der Gedanke an den Tod hat mich aufgerüttelt. Irgendwann werde ich aufhören zu sein. Und was mich dann erwartet weiß ich nicht. Aber bis dahin werde ich leben. Und ich werde glücklich sein; das nehme ich mir fest vor. Heute fange ich damit an. Ich will mich nicht mehr über Blödheiten ärgern. Einfach das Leben genießen. Durch den Kirchenpark mit dem Kettcar fahren und die Blicke der Erwachsenen auf mich ziehen. Die Tauben füttern im Prater. Traubi Soda trinken und Erdnüsse essen. Auf den Schultern meines Opas sitzen und die Welt aus einer besonderen Perspektive sehen.
Bald werde ich schreiben und lesen lernen. Darauf freue ich mich schon soooo sehr! Meine Oma liest mir oft aus dem „Räuber Hotzenplotz“ und aus dem Märchenbuch vor. Aber selbst lesen können! Selbst eigene Welten wieder und wieder entdecken. Auch die Comics, die mein Papa hie und da liest. Meine Welt ist Entenhausen. So weit wird es kommen. Ich werde lesen und jedes Buch wird mir eine neue Welt eröffnen. Noch kenne ich keine Buchstaben. Ich kritzle irgendwelche Zeichen auf ein kariertes Blatt und behaupte, das wären Buchstaben und Wörter. Meine Eltern und Großeltern lassen mir die Freude.
Sobald ich lesen kann, werde ich auch wie wild schreiben. Das steht fest. Denn ich nehme mir fest vor, eigene Geschichten zu erfinden. Ich stelle mir vor, die Erwachsenen könnten mich verstehen. Sie leben irgendwie in einer eigenen Welt und schieben Theaterkulissen hin und her. Was sie für die Wirklichkeit halten, ist für mich Schauspielerei. Sind das wirklich die Menschen, die sich eines Tages ihrer Selbst bewusst geworden sind? Haben sie keine Erinnerung mehr daran? Ich will die Erkenntnis, als Teil der Welt zu existieren, nie vergessen. Und wenn ich eines Tages eigene Welten erschreibe, werden die vorkommenden Personen oft auf der Suche nach sich selbst sein. Ich werde eine Geschichte darüber schreiben, wie sich mitten während des Spielens mein Zugang zur Welt veränderte und welche Konsequenzen das nach sich zog.
© Jürgen Heimlich 2021-08-17