von Otto Köhlmeier
“Lokomotivfahrer” soll ich schon als kleines Kind gesagt haben, wenn mich die Erwachsenen fragten, was ich denn einmal werden wolle, wenn ich groß bin. “Lokomotivfahrer”. Und nie bin ich von diesem Berufswunsch abgekommen. Auch später war das mein sehnlichster Wunsch: “Lokomotivführer”.
So war es denn auch kein Wunder, dass ich mit fünfzehn, nach der Pflichtschule, eine Lehre bei den Bundesbahnen begann. Natürlich nicht als Lokführer, das gibt es nicht. Aber als Elektriker. Einerseits in der Hoffnung, so die einzelnen Züge, die diversen Loks besser kennenzulernen. Und andererseits mit der Absicht, über diese Lehre einen Schuh bereits in der Türe zu haben, einen Job als Lokführer so leichter ergattern zu können.
Und tatsächlich: unmittelbar nach erfolgreichem Abschluss der Lehre durfte ich mit der Ausbildung zum Lokführer starten. Ein Jahr hindurch wurde ich theoretisch wie praktisch an meine Aufgabe herangeführt. Und ich war noch nicht ganz einundzwanzig, als es so weit war und ich erstmals eigenverantwortlich eine Zuggarnitur lenken durfte. Zuerst waren es Güterzüge, schon bald aber auch Personenzüge.
Es ist schon eine schöne Sache, wenn du hinter dir fünfzig, sechzig Waggons mit einem Gesamtgewicht von zwei- bis dreihunderttausend Tonnen herziehst. Oder wenn du einen Personenzug mit über 200 Sachen durch die Landschaft treibst. Es ist schön und ich liebte diesen Beruf. Sehr sogar. Bis vor zwei Jahren. Bis zu jenem verhängnisvollen Novembertag.
Es war ein nebelverhangener Morgen, als ich den Schnellzug übernahm. Bis zum Abend sollte ich die Strecke vom äußersten Westen des Landes bis an die Landesgrenze im Osten, rund fünfhundert Kilometer, zurückgelegt haben. Eine schöne Fahrt, mit relativ wenigen Haltestationen. Eine Strecke, die ich bis dahin ohne gröbere Vorfälle x-mal zurückgelegt hatte.
Auch diesmal verlief die Fahrt, trotz der nicht besonders guten Sicht und des Nebels, ohne Probleme. Zumindest während der ersten hundert Kilometer. Bei Kilometer hundertzwanzig geht es in einen vier Kilometer langen Tunnel. Ich drosselte, wie vorgeschrieben, etwas das Tempo. Etwa in der Mitte des Tunnels sah ich ein graues Bündel über den Schienen liegen. Ich hatte keine Ahnung, was das sein konnte. Deshalb setzte ich vorweg mehrmals akustische Signale ab. Es tat sich nichts. Das Bündel rührte sich nicht. Ich wiederholte die Signale und betätigte schließlich sämtliche Bremsen. Zwar wurde das Tempo etwas geringer, aber die tausend und mehr Tonnen rollten bzw. schleiften unaufhaltbar dahin. Und rollten und schleiften schließlich über das Bündel. Dass das Bündel ein Mensch sein konnte, ging es mir zwar durch den Kopf. Steh auf und lauf weg, rief es in meinem Inneren. Aber ich war mir nicht sicher. Erst als mein Zug stand, ich ausstieg und nachsah, wusste ich, dass es ein Mensch war.
Drei Monate wurde ich aus dem Verkehr gezogen. Ich erhielt psychologische Hilfe. Aber ich werde sie nicht los, die Bilder von damals.
© Otto Köhlmeier 2021-09-18