von Hedda Pflagner
Heute Nacht habe ich wieder einmal von ihr geträumt. Das habe ich schon lange nicht mehr. Viel öfter denke ich an sie im Wachen. Wenn ich z.B. im Wald hinter dem Haus dort vorübergehe, wo mich im düsteren Herbst des Vorjahres die Nachricht ihres Todes erreicht hat.
Sie ging mit dem Bundesland mit, in dem sie lebte. 100 Jahre Burgenland, 100 Jahre Ella. Die Medien rissen sich um die schöne alte Frau, die lebendige Bilder im Kopf entstehen ließ, wenn sie zu erzählen begann. Man hörte ihr fasziniert zu.
So auch ich.
‚Hedda, bist du‘s?‘, fragte sie immer leise, wenn ich an ihre Türe im Seniorenheim klopfte und wenn ich eintrat, breitete sich ein Strahlen in ihrem Gesicht aus. Sie hatte sich immer ein Mädchen gewünscht, erzählte mir später der eine ihrer beiden Söhne. Da verstand ich, warum wir all die langen Jahre so herzlich miteinander waren. Eigentlich dachte ich ja immer, dass es wegen Mama 1 so war, die ihre Freundin war. Auch sie wurde fast 100 Jahre alt. Schön, wenn man so lange Mütter hat und noch dazu gleich zwei!
Ella wohnte einst mit ihren beiden Söhnen im selben Haus wie meine Großeltern, bei denen ich oft die Ferien verbrachte.
Sie blickte auf ein ereignisreiches Leben zurück. Geboren als Ungarin, und als Kleinkind zur Österreicherin geworden, erlebte sie trotz schwerer Zeiten eine behütete Kindheit in einer Kleinstadt des südlichen Burgenlandes.
Ihre Eltern sprachen deutsch, doch wenn sie nicht wollten, dass die Kinder alles verstünden, verständigten sie sich auf ungarisch. Ella lernte heimlich ungarisch, denn sie wollte wissen, was die Eltern vor ihr zu verbergen suchten.
Und weil es damals in dieser Region noch kein Gymnasium gab, musste Ella nach der Volksschule nach Wien ins Internat. Furchtbares Heimweh plagte sie, aber Lehrerin wollte sie trotzdem werden. Das war sehr gefragt in einem Gebiet, in dem es noch nicht so lang deutschsprachige Schulen und Lehrer gab.
Ellas erster Mann fiel im Krieg, der zweite starb an den Folgen einer Kriegsverletzung. Danach hatte sie keine Lust mehr auf weitere Männer und den ganzen Kummer und zog ihre beiden Söhne alleine auf.
Die 1960er Jahre änderten ihr Leben grundlegend: sie wurde Heimleiterin jenes Seniorenheimes, in dem sie später selbst die letzten zwei Jahre ihres Lebens verbrachte.
Und irgendwie bleib sie immer zu Hause, denn ihr eigenes Haus war nebenan, nur getrennt durch einen blühenden Garten.
Ella liebte das Heim. Nie hörte sie auf mitzuleben und mitzufühlen und selbst im Alter blieb sie die gute Fee des Hauses. Sie schlichtete Streitereien unter den betagten Herrschaften und ihre Meinung war stets gefragt. Sie kannte sich ja aus, sie hatte nichts vergessen, sie wusste, was los war und wie man es machte, auch in Zeiten von Corona.
Da schnappte sie sich den Rollator und fuhr einfach mit dem Lift hinunter. Sie ging in den Garten des Heimes und auf der anderen Seite kamen ihre Söhne auf Besuch. Auch ich habe sie so getroffen. Man muss sich eben zu helfen wissen!
Fortsetzung folgt
© Hedda Pflagner 2022-03-25