von Nerina Steffen
Lieber Papa
Die Augen sind das Einzige, was mir noch von dir geblieben ist. Manchmal stelle ich mich auf die Zehenspitzen und drĂŒcke meine Nase an den Spiegel, um sie nĂ€her betrachten zu können.
Sie sind grĂŒn. Genau wie deine damals.
Doch wenn ich einen Schritt vom Spiegel wegtrete, kann ich mein ganzes Gesicht betrachten. Und du schaust mir nicht entgegen. Ich habe wohl alle meine GesichtszĂŒge von Mama geerbt. Schon ironisch irgendwie.
Mama war dir nie böse fĂŒr all die Sachen, welche du getan hast, und ich wusste nie, woher sie all diese StĂ€rke nahm. Du warst nie da, und wenn du es warst, war niemand glĂŒcklich, du am allerwenigsten. Immer warst du am Schlafen und nie wolltest du spielen. Mama ergriff dann immer deine Seite, obwohl du zu ihr nicht netter warst. Du hast sie immer fĂŒr alles kritisiert und angeschrien. Ihr dachtet wohl, ich wĂŒrde nichts mitbekommen, doch glaubtet ihr ernsthaft, bei diesem Lernpegel könnte ich schlafen?
Und dann warst du fort. Von einem Tag auf den anderen. Mama sagte mir, du hĂ€ttest fĂŒr einige Zeit fort gemusst. Das einzige Lebenszeichen, was ich von dir hatte, waren die Weihnachtsgeschenke, welche du immer schicktest. Ich dachte immer, du hĂ€ttest ins GefĂ€ngnis gemusst und dachte mir Geschichten ĂŒber deine Taten aus. Ich hĂ€tte sie dir gerne einmal erzĂ€hlt, sie hĂ€tten dich zum Schmunzeln gebracht.
Ich habe Lilien ausgesucht fĂŒr dich. Die hĂ€ttest du bestimmt gemocht. Ich hĂ€tte noch so viele Fragen, welche ich mir fĂŒr ein nĂ€chstes Leben aufspare.
Mein liebes Kind
Du warst der letzte Lichtstrahl, welcher den Weg durch meine Dunkelheit zu mir fand.Als ich dich zum ersten Mal in den HĂ€nden hielt, hatte ich das GefĂŒhl, als könnte ich alles schaffen, als könnte ich es besiegen. Doch ich konnte nicht. Es wurde immer dunkler und mein Kopf immer schwerer. Ich habe es versucht, wirklich. FĂŒr dich, fĂŒr deine Mutter. Doch irgendwann war ich nicht mehr ich selbst. Ich habe mehr Zeit mit meiner Bettdecke als mit euch verbracht.
Es hat mir das Herz gebrochen, als ich dich verlassen musste, nachdem mein erster Versuch gescheitert war. Ich hatte damals deine Mutter gebeten, dir nicht zu erzĂ€hlen, wo ich war, ich wollte nicht, dass du dir deinen Kopf zu sehr darĂŒber zerbrichst.
Als ich wieder zurĂŒckkam, war alles nur noch schlimmer. Ich dachte, ich hĂ€tte die Monster in meinem Kopf besiegt, doch sie hatten nur auf mich gewartet.
Bitte sei mir nicht böse mein Kind, mein Kopf war zu kaputt. Es tut mir leid, dass ich nicht lÀnger da sein konnte und deshalb nie der Vater sein konnte, den du verdient hÀttest.
© Nerina Steffen 2025-05-10