von Andreas Bartsch
Er war Tagestourist im Shaolin-Kloster. Das Leben hier interessierte ihn. Harte Arbeit, Disziplin, Kampfsport.
„Nun,“ meinte der Meister, „die genaue Ăbersetzung fĂŒr Kung Fu ist: Harte Arbeit. Disziplin. Meditation. TĂ€gliche banale Arbeit. Hingabe und Konzentration. Vor allem beim Training ist es wichtig, erst einmal an deine Grenzen zu kommen. Das geht mitunter recht schnell. Und hier fĂ€ngt dein persönliches Wachstum an. Du verschiebst diese Grenze jeden Tag ein kleines bisschen. Und gehst an manchen Tagen weit darĂŒber hinaus. Dein Verstand sagt dir, dass du es nicht schaffst. Alles in dir schreit nach aufhören. Und du schaffst es doch und wĂ€chst. Dieses Leben bezeichnet man als Kung-Fu. NatĂŒrlich gehört noch viel, viel mehr dazu. Aber erzĂ€hle mir doch etwas aus DEINEM Leben.“
„Ja Meister. Es ist anders. Mein Körper wehrt sich morgens gegen das Aufstehen. Ich habe keinen tiefen Schlaf. Ich fahre mit dem Auto 29 km zur Arbeit. Und suche dann jeden Tag etwa 15 min einen Parkplatz. GroĂstadt. Auch wenn alles voll ist, finde ich trotzdem immer einen. Ich bin Lehrer. Ich liebe den Beruf. Es ist meine Aufgabe 30 SchĂŒler jeden Tag neu zu motivieren. Hart aber erfĂŒllend. Am Nachmittag fahre ich 29 km zurĂŒck. Dann esse ich eine Kleinigkeit. Danach saniere ich weiter an meinem Haus oder erledige Papiere. Wie fast jeden Tag. Manchmal bis 22:00 Uhr abends. Dazwischen kommen meine Kinder von der Schule nach Hause. An manchen Tagen fahre ich meinen Sohn zu seinen Freunden. Um 19:00 Uhr hole ich meine Frau von der Arbeit ab. Sie hat keinen FĂŒhrerschein. Dann machen wir noch etwas Haushalt. Mein Sohn muss noch geduscht werden, bei meiner Tochter muss die Spinne aus dem Zimmer. Ich schreibe Stories. Zum Malen finde ich keine Zeit. Mein Atelier befindet sich im Dachstuhl. Ist noch Baustelle. Verkabelt. Isoliert. Noch nicht fertig. Badsanierung ist im FrĂŒhjahr dran. Die zwei WasserrohrbrĂŒche, die wir sonntagabends entdeckt haben, musste ich sofort beheben. Dann schmerzen die Muskeln. Vom Wandaufspitzen. Dazu mein Boxtraining, das ich total liebe, das ist manchmal so hart, dass ich am Abend denke ich werde nicht weiter am Haus arbeiten können. Aber es geht dann meist doch. Meine Mutter ist seit Jahren in Kliniken unterwegs. Mit chronischer Krankheit. Sie wohnt 500 km weg. Ich versuche die Pflege zu organisieren. Aber es klappt nicht immer so gut. Dann fĂŒhle ich mich eher hilflos. Wenn meine Kinder an solchen Tagen eine 5 in Mathe mit nach Hause bringen komme ich an meine Grenzen. Ich suche dann nach Ursachen und Lösungen. Wenn ich die gefunden habe, kann es sein, dass mein altes Auto wieder mal kaputt geht. Letztens war es drei Wochen in der Werkstatt. Dann fahre ich mit dem Zug zur Arbeit. Ich weiĂ aber nie ob der pĂŒnktlich kommt. Deswegen gehe ich dann eine halbe Stunde frĂŒher los. In den letzten Ferien wollte ich jeden Tag am Haus arbeiten. Genau dann starb meine Tante. Ich fuhr zur Beerdigung und besuchte noch meine Mutter in der Klinik. So fuhr ich an zweieinhalb Tagen etwa 1000 km. Die Sanierungszeit an meinem Haus reduzierte sich dadurch. Aber ich habe es trotzdem irgendwie geschafft. Soll ich weiter erzĂ€hlen, Meister?“
„Nein. Du benötigst kein Kloster. Du praktizierst bereits Kung-Fu.“
© Andreas Bartsch 2024-12-22