Melanie

Sabine Doods

von Sabine Doods

Story

Im Probemonat verhielt sie sich total unauffällig. Sonst hätte ich sie niemals aufgenommen. Unser Projekt war zwar auch für psychisch kranke Jugendliche da, jedoch mussten sie in einem Gruppensetting „funktionieren“. Melanie forderte täglich ein Einzelgespräch von mir ein. Und bei dem, was sie mir erzählte, bekam ich eine Gänsehaut. Eines Morgens kam sie zu mir, zog ihr T-Shirt hoch und zeigte mir eine Wunde. Sie erzählte, dass sie von der Polizei getasert worden sei. Was war passiert? Melanie verspürte oft den unwiderstehlichen Drang, einen Polizei- oder Rettungseinsatz heraufzubeschwören. Sie sprach immer wieder davon, dass sie sich umbringen wolle. Und sie schrieb dies auch in Chatnachrichten an die Polizei. So tippte sie in ihr Handy, dass sie zu Hause mit einem Messer sei und sich töten wolle. Als die Einsatztruppe zu ihrer Wohnung kam, öffnete sie die Türe mit dem Messer in der Hand und weigerte sich, es wegzulegen. Daraufhin, weil die Polizei davon ausging, dass sie sich etwas antun wollte, wurde sie getasert.

Wir trauten uns nicht mehr, Melanie in den Pausen alleine zu lassen. Sie sprach immer wieder davon, dass sie aus dem Fenster springen werde. Wir versperrten sämtliche Fenster. Es wurde klar, dass Melanie aktuell nicht in der Lage war, eine Ausbildung zu beginnen. Sie benötigte eher einen stationären Aufenthalt auf der Psychiatrie.

Als Melanie im Beisein ihrer Mutter in einem Gespräch mitgeteilt wurde, dass wir nicht der richtige Platz für sie seien, schaute uns ihre Mutter fast böse an. Sie hatte gehofft, ihre Schwierigkeiten mit ihrer Tochter auf uns abwälzen zu können. Nun musste sie wieder die Verantwortung übernehmen und das freute sie gar nicht. Melanie brach in Tränen aus und hörte gar nicht mehr auf zu weinen. Dann wollte sie sich von der Gruppe verabschieden. Die anderen Jugendlichen starrten sie erschrocken an. Ein Mädchen brachte Taschentücher und ein Glas Wasser zur Beruhigung.

Als Melanie weg war, ging ein kollektives Aufatmen durch den Raum. Die Kursteilnehmer:innen erzählten uns, welche Ängste sie ausgestanden hätten. Immer die Sorge, dass Melanie sich etwas hätte antun können.

Ich empfand Mitgefühl für Melanie und ihre Mutter. Dennoch war es die richtige Entscheidung gewesen. Auch wenn es ein dumpfes Gefühl im Herzen zurückließ. Man konnte nicht jedem helfen.

© Sabine Doods 2024-02-11

Genres
Romane & Erzählungen