von Sonja M. Winkler
Wir schnitten die Torte an und füllten die Gläser mit Sekt, unsere Mutter, mein Bruder und ich. Später, als ich mit Mutti allein war, nahm ich mein Smartphone und las ich ihr ein paar meiner Geschichten auf story.one vor, jene, in denen sie sich in Anspielungen auf frühere Zeiten wiederfinden konnte.
Wos du no ois waßt, sagte sie. Sie könne sich an vieles nicht mehr erinnern. Nach einer Weile des Schweigens erhob sie sich vom Sessel und tat einen Schritt auf den Heizkörper zu. Sie rieb sich die Hände, stützte sich am Fensterbrett ab und blickte hinaus in den Garten. Er war schneebedeckt.
I mecht, dass ihr die Urne mit meina Oschn bei am Bam im Goartn eigrobts, begann sie. Waun die Zeit kummt, fügte sie nach einer Pause hinzu. Für mich kam der Themenwechsel unerwartet.
Und wegn da Musik beim Begräbnis, do wünsch i ma wos. Du kennst eh den Bocelli, fuhr sie fort. „Teim tu seh gud bei“ soins spün. Und des Liad vom Sinatra. Ich wusste sofort, dass sie „I did it my way” meinte. Oba vom Harald Juhnke, auf Deitsch, sagte sie.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, frage ich mich, über den eigenen Tod nachzudenken, die letzten Dinge zu regeln und mit den Kindern darüber zu sprechen. Wie lange, bevor der Sensenmann an die Tür klopft? Meine Mutter hat es immer vermieden, heikle Themen anzusprechen. An Gefühle rühren ist wie ein Tanz auf dem Eis.
Vor dem Spitalsaufenthalt, sagte sie, habe sie ernsthaft ans Sterben gedacht. Wenn der Blutdruck verrücktspielt und hinaufschnellt auf 200, wenn der Körper solche Probleme macht, schlägt sich das auf die Seele, sagte sie, und aus ist’s mit dem Spaß am Leben. Ich merke, es kommt ihr schwer an, über den eigenen Tod zu reden. Über das Danach. Was sein wird, vor allem mit dem Haus. Das Haus, der Garten, das ist Mutters Ein und Alles, das Vermächtnis ihrer Eltern. Ihre Heimat. Meine Brüder haben keine Nachkommen.
Meine Mutter ist nach zehn Tagen im Spital fast wieder die Alte. Nur ein bisschen zerbrechlicher. Sie wurde medikamentös neu eingestellt. Sie freut sich auf die wärmere Jahreszeit und wenn Corona endlich vorbei ist.
In meinem Alter haben nicht mehr viele Menschen Vater oder Mutter, die noch am Leben sind. Sie haben mir etwas voraus: die Trauerarbeit, die mir noch bevorsteht.
Ich war immer der Meinung, eine Verlustexpertin zu sein. Der frühe Tod meines Vaters hat mich darauf geeicht, Beziehungen grundsätzlich als fragil einzuschätzen und Reißfestigkeit für die Ausnahme zu halten. Diese Einstellung hat mich sicher geprägt. Lange Jahre war die Beziehung zu meiner Mutter schwierig und überfrachtet mit Problemen, die in der Vergangenheit wurzeln. Es war jedoch mein tiefster Wunsch, dass Frieden einkehren möge in meiner Seele. Und jetzt, wo mir das gelungen ist, spür‘ ich dieses leichte Unbehagen in der Brust, wenn ich daran denke, dass das Herz meiner Mutter eines Tages zu schlagen aufhört.
Aber noch schlägt es. Und mein Herzklopfen beruhigt sich.
© Sonja M. Winkler 2021-01-16