von Anne_Ladgam
Als ich klein war, hatten meine Eltern Readerâs Digest abonniert und jedes Mal freute ich mich auf die neue Ausgabe, wo ich vor allem nach den Seiten âLachen ist gesundâ und âMenschen wie Du und Ichâ suchte.
Ich liebte die Witze und die lustigen Begebenheiten. Irgendwann las ich, dass sogar Menschen wie du und ich einen Beitrag schreiben und fĂŒr die Veröffentlichung 50 Schilling bekommen könnten. Immer wieder trĂ€umte ich von dieser Möglichkeit, verwirklichte sie aber nicht.
Als mein Bruder Scharlach bekam, musste er drei Wochen abgeschottet in seinem Zimmer verbringen. Auch wir Geschwister durften nicht mit anderen Kindern spielen. Ich glaube, damals lernte ich das Wort âQuarantĂ€neâ kennen.
Wochenlang spielten wir auf der groĂen Terrasse mit unseren Puppen, lasen und blĂ€tterten im Readerâs Digest. Dies taten wir jedoch nur, bevor es unser Bruder zum Lesen bekam, denn danach durften wir es nicht mehr angreifen. Alles war höchst ansteckend und wir lauschten andĂ€chtig, wenn unsere Mutti mit ernster Miene ĂŒber die BalkonbrĂŒstung gebeugt leise einer Nachbarin von seiner schweren Erkrankung erzĂ€hlte.
Auch diese Zeit endete. Irgendwann endete auch das Abonnement, aber heute erzĂ€hle ich von âMenschen wie Du und Ichâ.
Ich sah vor einem Haus Möbel auf die Wiese herunterfallen. Jemand schien umzuziehen. Alles, was nicht geschleppt werden konnte, wurde ĂŒber den Balkon entsorgt und verursachte durch die Fallgeschwindigkeit kleine Krater in der grĂŒnen Wiese.
Da in der NĂ€he kleine Kinder spielten, machte ich die Person, die umzog, aufmerksam, dass hier kleine Scherben in der Wiese lĂ€gen. âNa und?â sagte sie âJetzt kommt eh der Winter!â
Ich stutzte und argumentierte weiter: âAber was ist, wenn ein zweijĂ€hriges Kind hier spielt, dann könnte es sich beim Purzelbaumschlagen an den HĂ€nden verletzen oder gar eine kleine Scherbe in den Mund nehmen.â Mit diesem Argument versuchte ich zu punkten.
âAlso in diesem Alter sollte man schon wissen, dass man Scherben nicht in den Mund nimmt!â war das Gegenargument. Letztendlich klaubten wir dann beide nach dieser unnötigen Diskussion schweigend die Scherben zusammen.
Ein kleiner Junge, den ich nicht kannte, lief her und fragte, was hier los sei: âHier bekommt eine Familie eine neue Wohnung. Die tun ausziehen.â antwortete ich ihm. Andere Kinder kamen herbeigerannt und fragten nun wiederum ihn, worum es ginge und er erzĂ€hlte es in der Art weiter, wie er es verstanden hatte: âDie tun ausziehen. Da ist eine nackte Frau am Balkon!â
Im Nachhinein wurde mir klar, dass man unangenehme Dinge nie besprechen soll, wenn jemand hungrig oder mĂŒde ist. Oder wenn jemand gerade auszieht. Und ich begriff: Fehler machen ist die eine Sache, Fehler wieder gutmachen die andere.
© Anne_Ladgam 2022-08-10