von Kem
Am Rande des Stadtteiles Al-Mohandisîn hupt es Tag und Nacht. Motoren dröhnen und Reifen quietschen. Pferde wiehern und Esel schnauben. Ihre Hufe klappern auf dem Müll überdeckten Boden und sie ziehen Wagen mit Gemüse und Obst. Männer sitzen vor lokalen Kaffeehäusern, paffen an Zigaretten, ziehen an Wasserpfeifen und trinken Tee und Kaffee. Frauen rufen von Balkon zu Balkon, sprechen über die Distanz hinweg und lachen. Kinder spielen und schreien auf den Straßen. Gelblicher Sandstaub hängt wie Morgendunst in der trockenen Luft und verschleiert die Sicht. Der Duft der Gewürze aus den Basaren braust und schlägt Wellen über den Köpfen der Kairoer.
In einer engen Gasse versteckt sich eine Sprachschule. Hier treffen sich alle möglichen Länder und Kulturen. Es sind nicht die Gemeinsamkeiten, die uns verbinden, sondern unsere Unterschiede, denn sie sind es, die uns an solche Orte verschlagen und in der großen weiten Welt kleine Welten kreißen.
Die Schule ist wie ein Ameisenbau. Schmale Gänge ziehen sich labyrinthisch durch das Gebäude. In den Gängen sind die Schüler verschwitzt von der Sonnenscheibe am Himmel und in den Unterrichtsräumen schlottern sie unter dem Blizzard der Klimaanlagen. Selbst hier ist der Lärm zu hören. Durch jede Ritze dringt er ein und bahnt sich seinen Weg in die Ohren.
Inmitten der Schule ist ein von Bäumen, Sträuchern und Blumen umstellter, quadratischer Hof. Sein Boden ist weißgefliest und mit graublauen Äderchen durchzogen. Unter der Sonne glänzt er feucht und erweckt den Anschein von gefrorenem Wasser. Er bricht die Wüstenhitze. Das Merkwürdige an diesem Hof ist, dass so laut es draußen auch sein mag, umso stiller ist er, so still, dass es sich wie eine bleierne Decke über einen legt, aber nicht beschwert. Es ist der Druck der Stille, die man spürt, um von der plötzlichen Abwesenheit der Lebensgeräusche aus der Stadt nicht in eine Art Schock zu verfallen.
Während meines zweimonatigen Aufenthaltes in Kairo zog ich mich hierher zurück, wenn die Last des Lebens mich zu erdrücken drohte. Die ersten Minuten hatte ich von der Interferenz im Hof stets einen Tinnitus in den Ohren. Das eine Mal nahm ich ein Buch mit, ließ es aufgeschlagen auf dem Schoß liegen, aber las nicht darin. Das andere Mal spielte ich Musik ab, ohne auf den Text zu hören. Luft flutete meine Lungen, hier konnte ich aufatmen. Meine Zellen füllten sich mit Leben. Saumselig ließ ich die Blicke wandern. Sie kletterten die Wände hoch, sprangen von Ast zu Ast, von Blume zu Blume und blieben an einer blutroten hängen. Ich schlenderte zu ihr hinüber. An ihrem Stiel hing ein Kokon. Als ich mit den Fingern über die Puppe fuhr, bewegte sie sich und ich begriff. Das Lernen der arabischen Sprache war ein Nebeneffekt, das Ziel Verwandlung und Entfaltung, der Hof die Erkenntnis. Auch Adam und Eva mussten nach dem Fläzen aus dem Garten, um zu lernen. Jeder Schritt auf der Welt ist des Lebens Metamorphose.
Das Land der Pharaonen und Mysterien.
Ägypten.
© Kem 2021-03-02