Metamorphose

Nea Ransen

von Nea Ransen

Story

„Also, ich erklär’s dir jetzt mal so: Ich brauch einfach einen Menschen, den ich ein bisschen hassen kann, so in meinem Umfeld“, sagte Chris während er Strähnen aus seinen blonden Haarknoten öffnete und kunstvoll wieder zusammensteckte, „das brauchen Leute für ihre psychische Gesundheit, hab ich gehört.“  Er versuchte, den Coolen zu spielen, während seine Nervosität ihm ins Gesicht geschrieben stand. „Aha, und das soll jetzt der Grund dafür sein, dass du mir mit einem dreckigen Brotmesser an der Bushaltestelle aufgelauert hast?“, Maria war fassungslos.  

Bisher hatte ihr Bruder seine ganze Freizeit damit verbracht, Counterstrike zu spielen und online unter falscher Identität irgendwelche Frauen aufzureißen, hin und wieder hatte er damit tatsächlich Erfolg. In seiner gewohnt trübseligen Art schien er damit zufrieden zu sein. Dass er sich plötzlich Gedanken um seine Psyche machte, bereitete Maria Sorgen. Mehr Sorgen, als es sein seltsames Verhalten tat und mehr Sorgen, als sie sich eingestehen wollte. Komisch war er schließlich schon immer gewesen, und sie kannte ihn gut. Wieso fing er plötzlich an, sein Verhalten zu hinterfragen und sich nach einer Normalität zu sehnen? Normalität war schließlich etwas, was sie beide schon längst hinter sich gelassen hatten. „Das nennt man Outsourcing. Wenn ich meinen Selbsthass auf eine Person in meinem Umfeld übertrage, dann muss ich mit mir nicht so hart sein. Nimm‘s nicht persönlich, okay? Und außerdem, wie sonst hätte ich deine Aufmerksamkeit bekommen können?“ „Du hättest anrufen können.“ „Anrufen“, schnaubte Chris, „anrufen, klar. Mia! Du gehst doch nicht mehr ans Telefon, seit … damals.“  „Du meinst, damals, seit Papas-Geburtstag?“, Maria wusste nicht so recht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Du meinst, als-du-in-den-Kartoffelsalat-gepisst-hast-damals?“ Chris verdrehte die Augen. „Da siehst du mal, was Leute alles tun, wenn man sie ignoriert.“   Sie hatten sich lang nicht mehr gesehen. Die Sonne schien schräg durchs Fenster, was seinem blonden Bart einen leicht rötlichen Schimmer verlieh. Vereinzelt mischten sich graue Strähnen unter seine Haare. Er sah müde aus. Wie alt er geworden war, dachte Maria. Irgendwie hatte er sich verändert. Veränderung aber war genau das, was er schon immer am besten konnte. Chris, der Wandlungskünstler. Von einer Sekunde zur nächsten schien er sich in einen komplett anderen Menschen verwandeln zu können. Das war eine Eigenschaft, die Maria am meisten an ihrem Bruder schätzte und sich zugleich davor fürchtete. Sie, die seit zwanzig Jahren das gleiche zum Frühstück aß, Haferbrei mit Banane, jeden Dienstag zum Flötenkreis ging und grundsätzlich nur Röcke trug, stand Veränderungen skeptisch gegenüber. Sie schluckte. Allein während ihres kurzen Gesprächs war er zwischen den Rollen vom gruseligen Stalker zum rebellisch-kindlichen Bruder hin und her geswitcht. Er war mehr als nur ihr Bruder. So gut sie ihn auch kannte, er war immer für eine Überraschung gut. Als sie versuchte, nach seiner Hand zu greifen, hielt sie mitten in der Bewegung inne und zog ihre kleine Hand mit den kurzen Fingern wieder zurück. „Chris … Du weißt, dass es nicht einfach ist.“  


 

© Nea Ransen 2024-01-02

Genres
Romane & Erzählungen