von Känguru
Ich liebe es, Menschen zu beobachten. Welche Geschichte könnte die mürrische Dame, die zu meiner Linken am Bahnsteig sitzt, haben? Ist sie generell vom Leben enttäuscht, oder hat sie einfach nur einen schlechten Tag? Wie viele Nachrichten verschicken die locker lässigen Jugendlichen am Bahnsteig gegenüber wohl? Ob sie miteinander schreiben? Immerhin lachen sie immer gleichzeitig, aber ihre Köpfe sind tief in den Handys versunken….
„Schau mal!“, eine schrille Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Vor mir steht ein Kleinkind, das begeistert auf einen Schmetterling zeigt, der sich neben mich auf die Bank gesetzt hat. „Ja, das ist ein schöner Schmetterling“, antworte ich. „Metterschling!“, versucht es nachzusprechen. Ich muss unwillkürlich lächeln. Metterschling – wie lange habe ich diesen Ausdruck schon nicht mehr gehört!
Ich fühle mich unmittelbar in meine Kindheit zurückversetzt. Ich hatte das Glück, mit einer Rasselbande von Geschwistern und Cousinen aufzuwachsen. Auf dem Hof unserer Großeltern trafen wir uns immer zu Familienfeiern. Die besten Spielideen entstanden dort. Einmal hatten es sich meine jüngeren Cousinen in den Kopf gesetzt, alle Metterschlinge zu fangen. Die meisten von ihnen wussten wohl, dass diese eigentlich Schmetterlinge hießen, aber unserer Jüngsten zuliebe − und weil wir es eigentlich sehr lustig fanden − wurden eben aus den Schmetterlingen Metterschlinge. Ausgestattet mit zwei Käscher, die Onkel und Tante bei der Poolarbeit erübrigen konnten, liefen wir zuerst auf den Heuboden hinauf. Schnell stellten wir fest, dass das wohl nicht der Lieblingsplatz der Metterschlinge war. „Los, laufen wir zur bunten Wiese!“, kommandierte die Jüngste unter uns und schon lief sie die Stufen vom Heuboden wieder hinab. Selbst der kurze Aufprall am Boden, weil sie die letzte Stufe übersehen hatte, konnte sie in ihrer Begeisterung nicht bremsen. Kurz dachte ich, sie würde zu weinen beginnen. „Alles gut?“, fragte ich sie und strich ihr sanft über den Rücken, während ich das Knie inspizierte. Sie nickte tapfer und lief nach einer Schrecksekunde gleich wieder los. „Kommt, die Metterschlinge warten schon!“, rief da eine andere Cousine. „Alles klar, wir kommen!“ Bei der bunten Wiese angekommen setzte ich mich umgeben von Ringelblumen, Kornblumen, Löwenzähnen und Klee hin und beobachtete meine Cousinen. Wie sie hin und her rannten, die einen mit dem Käscher, die anderen mit vor sich ausgestreckten Händen. Glücklich ließ ich mich in die Blumenwiese zurückfallen. Das sollte ich bereuen, denn wenig später purzelten alle müden Metterschling-Fänger auf mich…
„Entschuldigung!“. Die Mutter des Kindes kommt mit einem weiteren Kind an der Hand zu mir. „Ach, das macht doch nichts!“, lächle ich sie an und wir unterhalten uns noch eine Weile, bis mein Zug kommt.
© Känguru 2023-08-08