von Louis Eikemper
An einem jenseits der himmelblauen Weiten des Horizonts entlegenen Ort, der sich hoch oben, in einer Zone fernab aller Zeitgefüge und hinter den auch letzten weißen Wolkenbetten gelegen befand, schwebten einst zwei majestätisch schöne, große Falken in der Freiheit der ihnen ergebenen Lüfte. Nicht ein Wesen vermochte es so hoch oben zu fliegen; gar niemand war dem Antlitz der gleißenden Sonnenstrahlen jemals so nahe zugewandt gewesen wie sie! Dem Anschein nach hatte Gottes Natur nur ihnen diese Ebenen des Himmels zu eigen gemacht. Dies ließ sie eines gemeinsamen Glaubens bestärkt und in zweisamer Einheit vereidigt eins werden, sodass sie tagein, tagaus patrouillierende Kreise zogen, in den ewigen Weiten ebenjenes ihrer mächtigen Schwingen ergebenen Reviers. Sie verteidigten es mit allem Eifer. So lag hier für die Klauen ihrer prächtigen, kräftigen Greife schließlich ein ihnen ganz eigenes Paradies untertan; ein Ort, der sich für niemanden sonst ohne weitere Hilfsmittel erreichbar fand – weder für die Menschen, noch für alle sonstigen der ihnen bis dorthin bekannt gewesenen, irdischen Wesenheiten.
Eines schicksalhaften Tages jedoch bemerkten die beiden, zu ihrem Schrecken entsetzt, dass ein mysteriöses, geflügeltes Geschöpf in die hohen Weiten ihres entlegenen, heiligen Habitats vorgedrungen war. Auf seinem Federkleid zierte sich ein seltsam schönes Muster von rubinroten wie zutiefst blauen Farbschemata. Mit ausgebreiteten Flügeln glitt es in der schwerelosen Schwebe ihres ergebenen Reviers umher. So kam es, dass sich die Falken im Ehrgeiz verletzt aufmachten, um dem fremden Geschöpf zu folgen und ihm zu zeigen, dass sich in dieser Zone einzig Platz für sie allein wiederfand. Zum Staunen der beiden stieg der von mystisch schöner Anmut ummantelte Eindringling nach einigen Meilen der Verfolgungsjagd immer höher in den Weiten der immer dünner und kälter werdenden Lüfte empor – bald so hoch, dass selbst den zwei Falken der Atem ausgehen sollte; sie aufzugeben und wieder umzukehren hatten. Als die beiden zu dem seltsamen Wesen aufblickten, funkelte ihnen das hell strahlende Licht der reflektierenden Sonne über die Pracht von dessen wundersam leuchtendem Federkleid wie ein glänzender Edelstein entgegen, in dem sich die Freunde geblendet sahen.
»Wer oder was bist Du?«, rief einer der beiden ehrfürchtig. Über ruhige und weite Flügelschläge flog die strahlende Kreatur langsam auf sie zu. Mit zunehmender Nähe erkannten sie, von welch majestätischer Größe sie in ihrer Gestalt beschaffen war. Auf transzendenter Ebene offenbarte sie sich in ihrer Erscheinung fast numinos; so wirkte sie doch überaus einschüchternd auf die Wahrnehmung der beiden Falken ein, da sie größer und kräftiger als jeder ihnen bekannte Vogel daher kam, doch dank ihres schillernd strahlenden Gefieders ebenso in einen Bann der Bewunderung zu ziehen wusste.
»Ich bin der Phönix – Bote vom Anfang und Ende aller Gezeiten«, lautete die Antwort. »Ein Phönix? Im Namen der Götter! Soweit mir bekannt ist, seid Ihr in Eurem Ansehen unlängst einer Legende gleich; ein sagenumwobenes Wesen, dass seit allem Gedenken auf Erden Mythen umrankt und über das man seit jeher in Geschichten zu schreiben pflegt! Sagt, woher kommt Ihr und wo nistet Ihr, oh heiliger Phönix? Wieso nur haben wir Euch hier noch nie zuvor gesehen?«, fragte der andere der beiden Falken stutzig und hielt sich einen der Flügel schützend vor das Gesicht, um in all der übernatürlichen Erscheinung, die der strahlende Phönix abgab, nicht zu erblinden. »Meine Heimat liegt fernab dieser Weiten, an einem für die meisten auf Erden heimischen Geschöpfe zu Lebzeiten schier unerreichbaren Ort. Seht, ich stehe im Dienst der Symbolik, welche sich der unendlichen Schlaufe vom Gefüge der Zeiten ergibt; unsterblich, in der Schwebe zwischen dem Dies und Jenseitigen. Mein Wesen ist von omnipräsenter Natur; ich bin gleichsam überall wie nirgendwo und diene der Erde im Zeichen vom allgegenwärtigen Reich des heiligen Edens, dessen Botschaft sich im Pfad der Liebe findet. Also fürchtet euch nicht, denn ich komme in friedlicher Absicht.«
Während der Phönix sprach, war er auch schon aufgebrochen, hatte die Wolkendecken durchschossen und befand sich im Sturzflug Richtung Erde. Die Falken ereiferten sich einige Weile in aller Mühe bei dem tapferen Versuch, seinem Tempo Stand zu halten und in näherer Reichweite hinter ihm zu gleiten, bis sie erschöpft die gestreckten Flügel sinken lassen mussten und den Phönix nur noch mit großem Abstand auf seiner Route verfolgen konnten. Er überquerte im Zuge seines Fluges sowohl Wüste als auch Meer, ehe sein Weg ihn in weiterer Ferne über die Dünen hin zu einem großen Hügel führte, wo sich eine Ansammlung von Menschen wiederfand, die dem kalendarischen Anlass der Wintersonnenwende zu Ehren ein Fest feierten. Der Kult ihres Glaubens hatte an diesem Tag zum Ritus üblich ein zeremonielles Feuer zu legen, um das sie heiter sangen, frohlockten und tanzten. Es diente der Huldigung dafür, dass die Jahreszeit eingeläutet wurde, in der die Tage wieder mehr Einflüsse vom Licht der Welt erhielten. Die beiden Falken beobachteten ehrfürchtig das Szenario, dass sich ihnen rund um die jubelnde Menge ergab, die sich nun freudestrahlender Gesten geladen einheitlich mit den Blicken gen Himmel wandte, da sich ihnen die rubinrot leuchtende, übernatürlich schöne Pracht vom Federkleid des majestätischen Phönixvogels am Horizont auftat, der in seiner Erscheinung beinahe wie ein vorbei schnellender, glühend gleißender Kometenschweif über ihren Köpfen hinweg flog – einige Runden drehte und schließlich mit weit ausgespannten Flügeln über zum Zentrum ihres Festes glitt, wo er sich im Zuge weiter, eleganter Kreise immer näher hin zu dem hoch lodernden, großen Feuer senkte, empfangen von tosendem Applaus. Dort angekommen verfolgten die zwei Falken in staunender Bewunderung gebannt, wie die Flammen die Federn des Phönix leckten und dieser sich – und all den ihm nachgesagten Mythen getreu – in ihnen hinab ließ, um mit der sengenden Hitze eins zu werden. Die Menschen tanzten und jubelten, heiter musizierend, noch bis in die frühen Morgenstunden um die lichterloh flackernden, flüchtigen, langen Schatten der Flammen ihres traditionell errichteten Scheiterhaufens herum – ehe mit dem Ende der Zeremonie auch dessen letzte, dunkle Lichter über die grauschwarz rot glühenden Kohlen in ihren finalen Zügen erloschen und es schließlich zu jenem schicksalhaften Moment kam, welcher sich der Welt von symbolischer Bedeutsamkeit einprägen sollte – als Stoff unzähliger Legenden, über die er in ewiger Erinnerung überdauern würde.
Aus der Asche erhob sich eine Flamme von Lapislazuli-blau farbener Anmut im Stich und ward eins mit den Böen des Windes, der sie über seine Mündungen in immer weiter wachsende Höhe stieß; mit ihr im Zauber vom Strom der ihn antreibenden Lüfte züngelte und sie im Wesen ihrer freizügigen Natur mehr und mehr atmen und sich entfalten ließ. Die Flamme formte sich schließlich aus zur Gestalt zweier strahlender Flügel und verwandelte sich weiter in eine große, grelle Kugel rubinroten Lichts, deren Radius die Umgebung einige Meilen weit erhellte.
In ihr erklart fand sich schlussendlich die göttliche Gestalt des Phönix wieder, dessen heilige Wesenheit aus der eigenen Asche wieder auferstanden war, um sich für ein weiteres Millennium in die ihm ergebenen, dies wie jenseitigen Ebenen der weltlichen Gefüge zu erheben und auf Erden ein neues Zeitalter anzubrechen, dass über seine Botschaft der Nächstenliebe in einem Jahrtausend des Friedens, der Gerechtigkeit sowie ganzheitlicher Harmonie geprägt werden sollte.
© Louis Eikemper 2025-02-10