von Jörg Gschaider
Hat zufällig jemand den Film „Das China Syndrom“ gesehen?
Ich hätte eigentlich schlafen sollen, um für die Nachtschicht fit zu sein. Stattdessen guckte ich fern: In Sidney würde es bald Mitternacht sein. Das Feuerwerk interessierte mich nicht so sehr als die Nachrichten von Schäden, die der Millennium-Bug anrichten würde.
Ein Freund mit seiner Freundin kam zu Besuch. Ein bisschen Ablenkung hatten sie mitgebracht. Doch lieber wäre ich am Fernseher gehangen, auf Katastrophenmeldungen wartend bzw. nach ihnen suchend.
Schneller, als es mir lieb war, war es 21:30 geworden. Zeit zu gehen. Meiner liebsten Frau ein Küsschen, bevor ich mich auf den Weg zum Schafott machte.
Was würde geschehen? Welche Antriebe würden ausfallen? Das Kesselhaus würde vorsichtshalber evakuiert worden sein, schon klar. Aber welche Antriebe werden ausfallen? Würden die Notsysteme funktionieren? Wenn nicht? Was könnte ich verhindern? Ein bloßer Kesselausfall würde in die Hunderttausende gehen und wenn es mir nicht gelänge, Folgeschäden zu verhindern, würde sich schnell ein Schaden Millionenhöhe ergeben …
Womöglich gäbe es sogar ein Feuerwerk der besonderen Art! Wäre die Leitwarte für so einen Fall weit genug vom Kessel entfernt? Wäre sie stabil genug? Jedenfalls würde die Explosion im gesamten Ortsgebiet als Erdbeben wahrzunehmen sein.
Sicher, die gesamte IT-Abteilung hat schon seit Monaten intensiv am Bug gearbeitet, aber waren sie in der Lage, Schlimmes zu verhindern?
23:30, noch mal alle wichtigen Systeme gecheckt: alles Ok! Zeit für einen Kaffee und eine Zigarette. Langsam füllte sich der um diese Uhrzeit ansonsten weitestgehend leere Kommandostand: Schichtelektriker, Schichtmechaniker, der eine oder andere Mitarbeiter von der IT. Sie schienen allesamt nervös. Der Chef der IT Abteilung war alsbald eingetroffen. Er ging mit seinen Mitarbeitern noch einmal ein paar Punkte durch. „Also, aus meiner Sicht der Dinge dürfte nichts passieren“, sprach er, eine Zigarette mit einem einzigen Zug rauchend, sich gleich die nächste ansteckend. Gar so überzeugt schien er nicht zu sein. Auch der Maschinist an den PCs zu meiner Flanke, der sonst pausenlos plapperte, war mucksmäuschenstill – seine Miene versteinert.
23:50 Abteilungsleiter und Betriebsleiter betraten die Warte: „Viel Glück, Männer! Wird schon schiefgehen!“ Ihr Wort in Gottes Ohr!
10 – 9 – 8 -7 … und: Keine Sirene hatte geheult, kein Alarm geblinkt. Ein kurzer kontrollierender Blick sagte, dass alles gut gegangen war! Eine unbedeutende Waage am Holzplatz und ein paar nicht lebensnotwendige Geräte im Labor hatten sich verabschiedet, wie es sich später herausstellen sollte. Weiter nichts. Die IT-Abteilung hat hervorragende Arbeit geleistet!
Selten haben die Sektgläser ausgelassener geklirrt und noch seltener ist das neue Jahr mit solcher Freude begrüßt worden.
© Jörg Gschaider 2021-03-19