von G.F. Stöger
Vier von zehn Frauen werden in ihrem Leben sexuell missbraucht. Ich bin eine davon. Also eine der vier. Ich war 10 Jahre alt.
Es begann harmlos mit Umarmungen. Das war noch schön. Er war für mich wie ein Opa. Ich hatte Vertrauen. Dann kamen Streicheleinheiten dazu. Zuerst nur an den Armen. Auch das war noch in Ordnung. Als er mir über die bereits wachsenden Brüste streichelte war es nicht mehr schön. Ich fühlte mich unwohl, ließ es aber geschehen. Warum, weiß ich nicht.
Doch dann wollte er eine Grenze überschreiten. Er wollte mit seiner Hand in meine Hose. Da sagte ich „Nein“. Zu meinem Glück ließ er es bleiben. Er versuchte es jede Woche erneut. Zuerst ein „komm zu mir“ und ich wusste Bescheid. Er nahm mich in den Arm und begann mich zu streicheln. Jedes Mal fragte er neuerlich, ob er in die Hose fahren dürfe – „nur ein bisschen!“ Jedes verdammte einzige Mal sagte ich „Nein“ und er beließ es. Glücklicherweise konnte ich nein sagen und er akzeptierte es. Mit der Zeit wollte ich nicht mehr zu ihm. Oft versuchte ich, meine Freunde zu überreden, doch mit mir den Gitarrenunterricht zu besuchen. Hatte ich jemanden dabei, ließ er mich in Ruhe.
Irgendwann wurde es mir zu viel und ich vertraute mich meinen Eltern an. Sie berieten. Für sie eine schwierige Situation, für mich noch mehr. Hätten sie die Vorfälle der Gendarmerie gemeldet, was wäre passiert? Hätte man mir geglaubt? Da ich selber Polizistin war, weiß ich heute, dass ich zum damaligen Zeitpunkt wohl mehr Schaden durch eine Anzeige als durch das Abmelden von der Musikschule genommen hätte.
Meine Mutter klapperte mit mir alle mir bekannten anderen Schülerinnen ab und fragte sie nach ähnlichen Erlebnissen. Keine berichtete davon. Sie ging zum Musikschulleiter. Die Antwort: „Das kann ich mir nicht vorstellen!“ Somit war es für alle „erledigt“.
Jahre später lernte ich ein Mädchen kennen. Wir stellten fest, dass wir denselben Lehrer gehabt hatten. Als ich von den Übergriffen auf mich berichtete, erzählte sie mir, dass sie nicht „Nein“ gesagt hatte und er ihr den Finger in die Scheide eingeführt hatte. Oft. Ich dürfe das niemanden erzählen. Ich wollte ihn anzeigen, ihr Vertrauen aber nicht missbrauchen. Vermutlich wäre wieder nichts passiert. Ein weiterer Schüler dieses Mannes ist homosexuell. Ich fragte mich manchmal, ob da vielleicht auch etwas vorgefallen war?
Ich konnte dem Mann im Zuge einer Lebensberatung vergeben. Trotzdem blieb ein Unbehagen gegenüber mir unbekannten älteren Männern. Bei meinen Kindern bin ich ebenfalls vorsichtiger als manch andere Mutter. Wobei – passieren kann es wirklich jeder und jedem. Ich versuche meinen zwei Schätzen zu erklären, dass niemand das Recht hat, etwas mit ihnen zu machen, das sie nicht wollen. Ich halte mich auch selber daran. Wenn sie gerade keine Umarmung oder Küsschen wollen, akzeptiere ich das.
Ich bin dankbar, dass ich solch ein Vertrauen zu meinen Eltern hatte, um mich ihnen anzuvertrauen. Wer weiß, was sonst im Laufe der Zeit passiert wäre.
© G.F. Stöger 2020-09-24