Mein Auftrag war klar: Dort drüben, siehst du die gelbe Boje? Bis dorthin muss ich es schaffen. Mit weißer Gischt rauschen die Wellen heran. Sie schieben Steine mit sich, die sich geräuschvoll in den Sandstrand graben. Meine Gedanken kreisen nur um eines: Wird meine Kondition reichen, es mit dem Wind und den Wellen aufzunehmen? Ich habe keine Wahl und keine Zeit zum Nachdenken. Mutig werfe ich mich in die Fluten und schwimme los. Schäumendes Wasser schwappt über meinen Kopf. Erst in einiger Entfernung vom Strand beruhigt sich die Wasseroberfläche. Das Meer meint es gut mit mir, fast könnte man glauben, es bemitleidet mich. Das kegelförmige Signalzeichen immer im Auge, kämpfe ich mich vorwärts. Das Boot, das an der Boje befestigt ist, wiegt sich sanft im Wind. Der sandige Meeresboden unter mir bietet die ideale Voraussetzung für die Erfüllung meiner Mission.
Manchmal habe ich das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Komme ich der Boje wirklich näher oder schieben mich die Wellen wieder zurück an den Strand? Ich verstärke meine Brusttempi, strample, was das Zeug hält. Wäre ich geübter im Kraulen, hätten die mit mir wetteifernden Wellen keine Chance. In meinem inneren Dialog höre ich mein Über-Ich schelten: „Du solltest mehr für deine Kondition tun!“ Das Kind in mir aber weiß, es macht Spaß ans Ziel zu kommen, egal wie, und den großen Schatz an Bord zu bringen. „Na dann“, motiviere ich mich, „schwimme einfach weiter und genieße das Abenteuer.“
Die Boje kommt näher, blitzt im gleißenden Sonnenlicht. Noch ein paar Meter, dann habe ich es geschafft. Ich spüre die Augen, die mich von links hinten ständig beobachten. Aufmunternde Durchhalteparolen dringen an meine Ohren. Meine Arme werden schwer. Kaum schaffe ich es noch, gegen den Wasserwiderstand anzukämpfen. Mein linker Arm, umschlungen von einer schwarzen Schnur, droht mit Streik. Ich drehe mich auf den Rücken und gönne beiden Armen eine Pause. Meine Armmuskeln entspannen sich, während meine Beine wie wild auf und ab schlagen. Ich beobachte meinen Auftraggeber. Er scheint zufrieden mit mir zu sein.
„Wir sind am Ziel! Berühre die Boje!“, feuert mich die kindliche Stimme an. Ich drehe mich wie ein Fisch im Wasser und erkenne mit Freude, dass ich beinahe mit meinem Kopf gegen mein schwimmendes Ziel gestoßen wäre. Winni strahlt übers ganze Gesicht. „Das hast du gut gemacht, Oma! Schau, was ich alles heraufgetaucht habe!“ Er hält mir eine Handvoll Muschelschalen vor die Nase. „Sind die nicht schön?“ Während ich das „Piratenboot“ den Naturgewalten trotzend durch die Ägäis schaukelte, lag der Schatzsucher bäuchlings auf dem kleinen Luftkissen und suchte den sandigen Meeresboden mit seinem Schnorchel nach Muscheln ab. Erspähte er eine perlmuttglänzende Schale, glitt er vom Kissen und tauchte ab zum Meeresgrund. Immer wieder, während ich die Mission mit meiner Muskelkraft vorantrieb.
Auf dem Rückweg legen wir uns beide auf die Luftmatratze und lassen uns von Wind und Wellen schaukelnd an den Strand treiben, den Schatz stolz in unseren Händen haltend.
© Gabriele_Krele-Art 2023-09-01