von Sonja M. Winkler
Manchmal werden Wünsche erfüllt, sogar wenn man mit deren Erfüllung gar nicht rechnet. Eine Storyanerin hat auf meine vor einem Jahr gepostete Story „Regentag“ reagiert, das heißt auf einen von mir darin beiläufig geäußerten Wunsch. Vor zwei Wochen holte ich ein Packerl aus Salzburg von der Post ab. Was ich dann in Händen hielt, war ein Buch in weinroter Leinenbindung.
Inzwischen habe ich das Vorwort des lateinisch-deutschen Schulwörterbuches, kurz Stowasser genannt, aufmerksam gelesen. Es ist nicht irgendein Stowasser, sondern der, der 1994 zum hundertjährigen Bestehen in limitierter Auflage herauskam und dessen Einband von Friedensreich Hundertwasser selbst gestaltet wurde, Hundertwasser, dessen bürgerlicher Name wie der seines Vorfahren lautete, aber Hundertwasser nannte sich so, weil sto im Slawischen 100 heißt.
Mich hat Latein von Anfang an fasziniert, weniger, was wir lasen, es war mehr die Sprache an sich, das Ursprüngliche, Handfeste und Konkrete, das Abstraktion erst möglich macht. Concrētus „sinnlich wahrnehmbar“, Partizip II von concrēscere „zusammenwachsen“. Materie, die sich zu Gegenständlichem verdichtet, ist begreifbar. Das Gegenwort abstractus leitet sich von abs-trahere „wegschleppen, fortziehen“ ab. Ein fester Griff. Holzgriff. Handgriff. Löst sich mit einem Mal vom Gegenständlichen und wird ins Gedachte fortgeschleppt. Der Begriff.
Wahrscheinlich spielte auch der Familienname unseres Lateinlehrers eine Rolle. Wilhelm Faber hieß er. Nomen est omen. Denn faber ist zufällig lateinisch und bedeutet „Handwerker“. Und ein Handwerker war er, unser Faber. Er hatte die Buchbinderei erlernt, erzählte er uns in der ersten Stunde. Sie sei nach wie vor sein liebstes Hobby, schwärmte er. Faber fabriziert.
Ich glaube, dass der Faber mit seinem Unterricht dieses Feuer in mir entfacht hat, das noch immer brennt. Oft sagte er, ihr könnt alle weghören, die Erklärungen sind nur für die Winkler, und dann spitzte ich die Ohren. Er drehte sich zur Tafel, malte ein Sternchen vor *kord-, sagte cor, cordis, erwähnte die Kardiologie und landete nach ein paar Lautverschiebungen beim Wort „Herz“.
Meine Hausarbeit in Deutsch, zu der man heute „Diplomarbeit“ sagen würde, schrieb ich über ein lateinisch-spätmittelhochdeutsches Abstractum-Glossar. Ich erinnere mich, wie der Professor den in Schweinsleder gebundenen Zwettler Codex mit weißen Handschuhen anfasste und mir die Doppelseite aufschlug, voller Ehrfurcht. Sprachlos, beide.
Vestigium heißt „Fußspur, Fährte“. Aber im Glossar des beginnenden 15. Jahrhunderts schrieb ein Mönch neben vestigium schon „gespuer“. Konkret, abstrakt.
Und so folge ich meiner Spur, Schritt für Schritt, und spüre allem nach, was da auftaucht, um zu begreifen. Noch im Gymnasium stieß ich auf „Homo Faber“, den Techniker, dem der Zufall zum Verhängnis wird. Der an der Liebe scheitert. Mehrmals gelesen. Schlöndorffs Verfilmung, grandios.
© Sonja M. Winkler 2021-07-02