von Andreas Bartsch
… hast du viel gesehen. Viel erlebt. Viel erlitten. Viel geschaffen. Du stehst möglicherweise am Beginn eines neuen Abschnitts. Fast so wie ein Kind. Jeder Tag ist neu. Auf einmal sind dir die anderen Meinungen egal. Du hast sie lang genug befolgt, inhaliert, ĂŒber dich ergehen lassen. Dich verbogen. StĂ€ndig auf dich aufmerksam gemacht damit die anderen sehen, was du leistest. Und was fĂŒr ein Held du bist. Beeinflusst von Werbung und Gesellschaft immer das getan was die anderen fĂŒr richtig hielten. Hast dich selbst verloren und aufgegeben ohne es zu merken.
Du hast in der Schule gebĂŒffelt und warst stets pĂŒnktlich. Keinen Tag krank. Dein Abi gemacht. Warst ein klasse Sportler und hast Anerkennung dafĂŒr erhalten. Solange du gut warst. Trainiert in Schnee und Eis. Bei Dunkelheit. Regen und groĂer Hitze. Dich ĂŒbergeben, wenn es zu anstrengend war. Irgendwann hingeschmissen. Weil dein Körper nicht mehr konnte. Du warst beim MilitĂ€r, hast mit scharfer Munition geschossen, Handgranaten geworfen, Rekruten ausgebildet. Du hast im Manöver deine Grenzen erfahren. Wurdest von diesem Offizier zusammengeschissen, weil deine Uniform dreckig war, nachdem du zwei Tage ohne Schlaf im Panzer unterwegs warst und jetzt hungrig und mĂŒde zur Kantine wolltest, essen wie ein Mensch und nicht wie ein Tier im Dreck. Du hast studiert und diskutiert. Mit Dozenten, die deine groĂe Klappe hassten und dir dafĂŒr schlechte Bewertungen gegeben haben. Nur um dich mundtot zu machen. Du hast in Werbeagenturen gearbeitet. Als Freelancer und warst nicht abgesichert. Das Finanzamt war gnadenlos. Du hast in deiner ersten Beziehung Kontakt mit Schizophrenie gehabt. Das kanntest du nur aus Filmen. Du hattest Angst. Du hast deswegen deine erste gekaufte Wohnung verloren und standest vor dem Nichts. Du hast dich aufgerappelt. Und wurdest in deiner nĂ€chsten Partnerschaft Vater. Hast nachts die Flaschen fĂŒr die Babys zurechtgemacht. Du weiĂt wie sich volle Windeln anfĂŒhlen und riechen. Du weiĂt, wie es ist, wenn du deine Kinder abgibst an die Kita oder an die Schule. Es zerreiĂt dich. Du weiĂt, wie es ist, wenn du dich trennst und Kinder und ein Haus dazwischen stehen. Du hast gesehen wie dein Vater stirbt. Und deine Schwester. Du weiĂt wie der Tod aussieht. Du weiĂt, wie es ist, wenn man mit 50 schlagartig wieder alleine dasteht und mit zahlreichen Datings seine Jugend nachholt. Und du weiĂt, wie es ist, wenn man glaubt, der Liebe hinterherlaufen zu mĂŒssen und scheitert. Du kennst das Burnout aus deinem Job, weil du jahrelang gemobbt wurdest. Du hast noch viel, viel mehr gesehen …
Auf einmal lichtet sich der Nebel. Du beginnst mit Kickboxen. Du bekommst einen Kampf und gewinnst. Du findest ein Haus und darfst es renovieren und nach deinen Ideen gestalten. Du verlierst eine Frau und bekommst eine neue die zu dir passt. Du kĂŒndigst deinen Job, ohne einen neuen Vertrag zu haben und gehst volles Risiko. Und bekommst den richtigen Job. Menschen bewundern dich, ohne dass du es bewusst herbeifĂŒhrst oder erzwingst. Es ist dir egal. Du bist in deiner Mitte. Du bist authentisch. Du lĂ€sst dir den Mund nicht mehr verbieten und gehst sinnlosen Diskussionen und Streitereien aus dem Weg. Auf einmal sagen dir Menschen, dass du sie motivierst und sie dich als Vorbild sehen.
Und du fragst dich: Ich bin jetzt 56. Was passiert denn bloĂ, wenn ich 60 bin?
© Andreas Bartsch 2025-02-05