Mit den Füßen die Kraft der Erde spüren

Wortweberin

von Wortweberin

Story

„Sie wollen den Wicklow Way ganz alleine laufen? Was, wenn Sie überfallen werden?“ Die Dame im Dubliner Tourismusbüro schaut mich groß an. Ich schaue groß zurück. Welcher bemitleidenswerte Wegelagerer setzt sich denn mitten in die Wicklow Mountains und wartet auf die eine, ahnungslose Studentin, die hier den ganzen Tag über vorbeikommt? Ich verlasse das Büro irritiert.

Die Irritation hält nicht lange. Vorfreude, Aufregung – und ja, auch ein bisschen Angst – brauchen Platz. Kann ich das? Was nehme ich mit? Zuallererst mal mich selber. Ich will meinen Weg finden – meinem nicht vorhandenen Orientierungssinn zum Trotz. Ich will mit mir selber loslaufen, sehen, ob mir langweilig wird, und ob ich mit mir auskomme.

An Tag 1 blättere ich meinen Kalender um und lese: „Mit den Füßen die Kraft der Erde spüren“. Guter Plan! Kraft kann ich brauchen. Schon an diesem Tag lerne ich, was die Höhenlinien auf einer Karte bedeuten. Ich lerne, dass man Autobahnen nur schwer überqueren kann. Und ich lerne, dass es sogenannte ‘private roads’ gibt und eben nicht jede eingezeichnete Straße begehbar ist. Letztere Lektion endet mit einem Umweg auf müden Füßen über einen weiteren Berg – und mit einer besonderen Begegnung. Während ich – vor Wut heulend – die Straße hochstapfe überholt mich ein Bus. Er hält, die Tür geht auf. Ich gucke fragend rein, ein Mann guckt grinsend raus.

“Where ‚ ye goin, love?”

Ich, heulend: “Knockree Hostel.”

“Ah, jump in, I’ll take ya.”

Und das macht er. An seinem Feierabend, in seinem leeren Bus über winzige Schotterwege.

Es ist die erste – aber nicht die letzte besondere Begegnung. Da ist die Wandergruppe, die mich und meinen tonnenschweren Rucksack mühelos auf dem Aufstieg überholt und auf dem Gipfel zu einem Picknick einlädt. Da ist die neugierige Schafherde, die angerannt kommt und mir – quer über die Weide – nicht von der Seite weicht. Und da sind so viele mehr: die bemutternde B&B Besitzerin (“More toast, pet?”), das jüdische Paar, das für den Sabbat eine Unterkunft ohne key card sucht (keine Elektrik erlaubt) und die quirlige Inge, mit der ich in einer Pause in Wicklow zwei Tage voller Leichtigkeit erlebe.

Aber ja, zwischen all diesen Begegnungen bekomme ich Zeit mit mir. Ich lerne mich kennen, wenn ich durchnässt, müde und hungrig bin und mich verlaufen habe. Ich stelle erstaunt fest, dass ich meinen Weg dann doch immer finde und meine Füße mich noch eine ganze Weile tragen, wenn ich denke, es geht nicht mehr. Ich stelle fest, dass mir so gar nicht langweilig wird. Ich spüre den Wind in den Haaren, die Sonne auf der Haut, die Erde unter den Füßen. Ich bin alleine im Nichts und erfahre die absolute Weite, lasse mich – sprach- und atemlos – von der wilden Schönheit dieses Landes berühren. Und ich stelle fest, dass ich ganz gut mit mir auskomme.

Es ist eine Zeit die mich für mein Leben bereichert. Was allerdings nicht passiert ist, dass mich irgendjemand überfallen hätte – und, ganz ehrlich, selbst wenn: viel Spaß mit meinen stinkenden Socken.

© Wortweberin 2021-03-20

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