von NeleChryselius
Ein bisschen Luxus sollte meine trüben Gedanken über mein fortgeschrittenes Alter vertreiben, die mich seit einiger Zeit beschäftigten. Wenige Tage zuvor hatte ich mit meinem Frauenarzt über meine Stimmungsschwankungen gesprochen. Auf die Frage, ob ich vielleicht so etwas wie eine Midlife Crisis haben könnte, erwiderte er ernüchternd:“Naja, dafür ist es wohl ein bisschen spät. Oder wollen Sie 100 werden?“
Nun stand also mein 50. Geburtstag an, der sollte in Venedig gefeiert werden. Dort war in der Vorweihnachtszeit Low Season und so leisteten wir uns ein paar Tage im edlen Hotel Metropole. Am Tag zuvor kamen wir später als geplant an, es war längst dunkel.
Das Vaporetto fuhr im Zickzack den Canal Grande entlang. Wir schauten in die kleinen, kaum beleuchteten Seitenkanäle. „Ein bisschen gruselig“, sagte ich. „Gleich kommt der Zwerg im roten Mantel um die Ecke“, ergänzte Leo, in Anspielung auf den Film „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, den wir bereits kannten, als wir uns kennenlernten und seitdem noch mindestens zweimal gemeinsam gesehen hatten. Der Gedanke an diesen Film lag nahe, denn wir würden in Kürze in genau dem Hotel ankommen, in dem die Protagonisten des Films, Laura und John Baxter, gewohnt hatten.
Nach der Ankunft wollten wir nur rasch unser Gepäck ins Zimmer bringen und und dann schauen, ob wir in einer Trattoria noch eine Kleinigkeit zu essen bekamen.
Wir betraten das Hotel. Was für eine Pracht! Linker Hand war der Eingang zum Restaurant, dort würden wir morgen tafeln. „Vielleicht bekommen wir ja das Zimmer, in dem diese wunderschöne Liebesszene gedreht wurde!“, flüsterte ich Leo zu.
Ich erinnere mich nicht, ob es keinen Lift gab oder ob wir freiwillig die Treppe nahmen, die neben dem Restaurant zu den Zimmern führte. Interessant gebaut. Nach wenigen Stufen gab es ein kleines Fenster zum Restaurant. Ich schaute hinein und traute meinen Augen nicht. Dort saß er! Mit dem Rücken zum Restaurant und dem Gesicht zum Treppenfenster. Genau im richtigen Moment hob er den Kopf, unsere Blicke trafen sich. Kein Zweifel, Donald Sutherland dinierte im Metropole!
Leo war vor mir gegangen. Ich hastete die Treppe hinauf. „Unglaublich, hast du gesehen, wer da unten im Restaurant sitzt?“ Hatte er nicht, ich klärte ihn auf.
Kurz darauf verließen wir das Hotel wieder, um, wie besprochen, nach einem Lokal in der Nähe zu suchen. Wir bogen um die Ecke, gingen ein paar Schritte. Ich war noch immer ziemlich aufgeregt. „Weißt du was, wir ziehen das Geburtstagsessen vor und essen heute im Metropole“, beschloss ich.
Der Rezeptionist mag sich seinen Teil gedacht haben, als wir baten, unsere Reservierung auf sofort vorzuverlegen. Wir bekamen einen Tisch in der Nähe des Restaurantausgangs. So hatte ich einen weiteren Blickkontakt mit ihm, als Mr. Sutherland das Restaurant verließ. Er lächelte mich an.
Mitternacht war vorbei. Ein besseres Geburtstagsgeschenk konnte es nicht geben: Mit 50 Jahren fühlte ich mich so jung wie ein Teenager!
© NeleChryselius 2020-06-29