von Jörg Gschaider
An einem sonnigen Herbsttag fanden wir uns in einer Kneipe am Ufer des Baikalsees ein. Offiziell gab es keinen Alkohol, Wodka schon gar nicht. Mit freundlichem Lächeln, ein bisschen raunzen und sattem Trinkgeld, ließen sich Regeln umgehen. Wie zu Hause.
Unsere Gruppe, aus einem steirischen Dorf kommend, saß also bei ein paar Flaschen Klarem fröhlich beieinander, als sich die Eingangstür öffnete. Grimmig dreinblickende, furchterweckende Asiaten betraten das Lokal. Die Stimmung wurde trotz des herbstlichen Sonnenscheins augenblicklich frostig. Besonders an einen Typen erinnere ich mich ganz genau: langes Haar, dessen wilde Mähne durch ein Stirnband in Zaum gehalten wurde, mit seinem Bart und besonders finsterem Blick aus seinen Schlitzaugen an Dschingis Khan erinnernd. Überhaupt schien es, als hätten Dschingis Khans Horden das Lokal gestürmt. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich das Weite gesucht. Davon gab es ja genug!
Nach einer Weile gedrückter Stimmung hatte Heinz den rettenden Einfall: Er packte seine Gitarre aus und begann zu spielen. Er sang ein Liedchen dazu und allmählich stimmten wir ein. Schließlich verlangte der Grimmige nach der Gitarre und Heinz gab sie ihm. Nun fingen die „Russen“ zu spielen und zu singen an. Eine Flasche Wodka fand den Weg auf den „russischen“ Tisch. Zu unserer Überraschung stellte sich heraus, dass einige aus der wilden Horde akzentfrei Deutsch sprachen. Es handelte sich um eine Gruppe Burjaten. Sie hatten einen 150 km weiten „Wandertag“ hinter sich, erzählten sie. Unterwegs waren sie eingeschneit worden und nun machten sie Rast. Wow! Die Geschichte gipfelte in einem friedlichen Wettstreit in Gesang, Gitarre und klirrenden Gläsern. “Nastrovje!” Irgendwann wurde die Frage gestellt, welche mich noch heute beschäftigt: „Warum gebt Ihr Euch mit den Russen ab? WIR sind das Volk Sibiriens!“ Ich war erstaunt über die Frage und verstand den Sinn nicht richtig. Für mich waren damals Russen eben Russen und es machte keinen Unterschied, ob jemand asiatische Gesichtszüge trug oder nicht.
Erst viel später erfuhr ich, was es mit der Geschichte der Burjatischen ASSR auf sich hatte. Kein Wunder, dass Burjaten den Russen gegenüber zumindest misstrauisch waren. Allzu oft dürften sich keine westlichen Touristen in diese wunderschöne Gegend verirrt haben. Deshalb wurden wir sehr wahrscheinlich für Russen gehalten. Bis, ja bis Heinz die Gitarre ausgepackt und uns als Ausländer geoutet hatte.
Gänzlich getäuscht hatten sich die Burjaten aber nicht: Es waren nämlich Russen unter uns – unser Guide Nikolaj und unser Fahrer. Auf sie hätten wir im Krisenfall schon aufgepasst! „Die Engländer sind schön blöd“, stellte Nikolaj fest. „Warum, wie kommst Du darauf?“, fragte ich. „Die hatten ihre Kolonien in Ăśbersee und mussten sie aufgeben. Wir haben unsere an unser Land angeschlossen. Das fällt niemandem auf und wir behalten sie.“
© Jörg Gschaider 2022-03-02