von Nic
Mit zwei Jahren begann Jan zu zählen. Die Bausteine in seinem Zimmer, die Punkte auf seinem T-Shirt, die Kleiderstücke, die Mama an die Wäscheleine hing, die Autos an der Ampel. Sobald er sprechen konnte, befragte er die Leute in seiner Umgebung. Er verglich ihr Alter, ihre Schuh- und Kleidergröße und auch ihre Lieblingszahl.
Inzwischen ist Jan erwachsen. Bis heute richtet er sein Leben nach Zahlen aus. Sie schenken ihm ein Gefühl von Sicherheit, indem sie seine Welt auf das Messbare begrenzen. Jan stellt seinen Wecker immer auf die gleiche Uhrzeit, zählt die Striche, mit denen er sich durchs Haar fährt, wiegt die Haferflocken für sein Müsli. Er beginnt täglich um die gleiche Zeit seine Arbeit am Computer als Informatiker. Um 12.30 Uhr, auf dem Weg zum Supermarkt, zählt er die Stufen im Treppenhaus und freut sich, dass die Zahl immer gleich bleibt. Dort kauft er jeden Tag ein, seine Listen gleichen sich. Er zählt an der Kasse die Kunden vor ihm, dann sein Kleingeld. Er überschlägt die Quittung im Kopf und an der Ampel zählt er die Sekunden, bis diese umschaltet. Sie wird gerade grün, als ihn eine Frau, die er vorher gar nicht bemerkt hatte, anspricht. Mit einem Blick erfasst er die rundliche Dame: ca. 1,60 groß, Kleidergröße 44-46, ca 35 Jahre alt, im Gesicht etwa 100 Sommersprossen.
„Entschuldigen Sie“, spricht ihn die Frau in einem Akzent an, der ihm verrät, dass ihre Herkunft sicher 1500 km von hier entfernt liegt. „Entschuldigen Sie.“ Das Anliegen scheint der runden Frau wichtig: “Ich suche eine Straße, die ganz hier in der Nähe liegen muss. Es gibt dort einige rosa Hochhäuser und auf der rechten Seite einen Spazierweg und ein Stück weiter ein Café mit bunten Stühlen.“ Er fragt verwundert: „Können Sie mir Postleitzahl und Hausnummer nennen?“
Die Frau verneint. „Ich habe den Zettel mit der Anschrift verloren, aber es ist sehr schön dort.” Sie erzählt weiter: „Es sind große Häuser, doch es gibt einen Hinterhof mit Bäumen und die Wohnungen sind hell.“ Dann beschreibt sie Jan, woran sie sich alles erinnern kann. Er will eigentlich weitergehen, doch irgendetwas lässt ihn verharren – etwas, das er weder zählen noch einordnen kann.
Er bemüht sich, sich auf die Beschreibungen der Frau zu konzentrieren. Plötzlich erkennt er: „Ich weiß, wo sie hin müssen, kommen Sie mit.“, sagt er zur runden Frau. Jan sieht, wie eine Last von mindestens 50 kg von ihren Schultern fällt.
Während die Frau neben Jan läuft, schildert sie ihm fröhlich die Welt, die sie sieht. Er geht zielstrebig und die runde Frau folgt ihm blind – voll Vertrauen, vertieft in ihre Wahrnehmung, die sie ihm in Worten wiedergibt, die ihn auf eine ihm bisher unbekannte Weise berühren. Kurz darauf stehen sie vor dem Haus, in dem er wohnt. Sie lacht: „Genau hier bin ich richtig. Heute werde ich den Vertrag unterschreiben. Vielen Dank!“
10 Minuten zu spät isst Jan zu Mittag. Aus dem Takt gebracht berechnet er die Wahrscheinlichkeit, dass die runde fröhliche Frau bald seine Nachbarin sein könnte.
© Nic 2022-08-11