mit jedem Tag. (Leseprobe)

Anke Hüper

von Anke Hüper

Story
Mikrokosmos Makrokosmos

Aha, die Maus ist schon seit Tagen in dieser Welt. Warum sagt sie das erst jetzt? Ist die Aussage der Maus verlässlich? Ich dachte immer, die Mäuse wären erst am sechsten Tag erschaffen worden. Aber diese Maus hat offenbar den ganzen Schöpfungsprozess miterlebt: Erst ist die Welt noch leer, bis jeden Tag etwas Neues in die Welt gestellt wird. Spätestens am fünften Tag wimmelt es einigermaßen, am sechsten Tag wird es eng. Ja, die Maus ist selbst schöpferisch tätig: Zuerst erschafft sie das Ach und damit Weite, Enge, Luft, Ton und Gefühl. Dann öffnet sie den Raum, und die Welt kommt auf die Welt. Doch diese Welt ist – gerade erst erschaffen – schon nicht mehr dieselbe Welt, die sie noch eben war. Sie ist nicht irgendwie, sie ist nicht in einem Zustand, sondern sie wird, sie verändert sich. Also ist die Zeit auch schon da, sonst wären Werden und Enger-Werden, also Wandel und Bewegung, nicht denkbar. Nun teilt die Maus die Zeit in Tage und führt so Licht und Ordnung ein. Aus Chaos ist Kosmos geworden.
Ich lasse den ersten Satz der Maus in meinem Kopf herumspazieren und finde eine Erinnerung: Um mir einen Streich zu spielen, gelang es den Jugendlichen im Unterricht, ihre Bänke so leise und langsam zu mir nach vorne zu schieben, dass ich erst, als ich schon fast zwischen Tafel und vorderster Bank eingeklemmt war, bemerkte, was vor sich ging. Rückt die Welt auch langsam und stetig auf die Maus zu, und sie nimmt das nur wahr, wenn sie zum Beispiel aufwacht und entdeckt, dass sich der Abstand zwischen Nest und Wand verringert hat? Oder springt die Welt wie die Zeiger einer alten Bahnhofsuhr ruckweise immer wieder ein Stück auf sie zu?
Damit habe ich die Idee von der kreativen Maus schon wieder hinter mir gelassen, was schade ist, denn eigentlich möchte ich, dass die Maus groß herauskommt. Und eine greinende Maus, die in ihrem Labyrinth eingeklemmt ist, taugt mir dazu nicht. Aber auf diesem Stück meines Weges sieht es nicht so gut aus für die Maus. Selbst wenn ich sie als Schöpferin ihrer Welt betrachte: Kaum ist eine Welt voller Möglichkeiten da, schon dämpft die Maus die Erwartungen. Hat sie gerade noch bei den Worten „die Welt‟ die Stimme hoffnungsfroh erhoben und die Arme ausgebreitet, sackt sie nun zusammen und stöhnt „wird enger‟. Und der Chor der Erinnyen flüstert immer wieder „mit jedem Tag‟ und rückt dabei silbenweise näher. Als reichte es nicht schon, dass die Welt überhaupt enger wird! Nun verengt sie sich „mit jedem Tag“, vorhersehbar, grausam routiniert, unnachgiebig getaktet. Nicht dann und wann ein bisschen. Auch nicht jeden zweiten Tag. Nein. Erbarmungslos. Schlag auf Schlag. Mit jedem Tag. Die Zwangsläufigkeit, mit der die Maus die Welt zusammenschnürt, wirkt wahnhaft. – Wie komme ich da jetzt wieder heraus?

Alles nur Scherz! Aus dem ersten Satz geht ja gar nicht hervor, dass die Maus überhaupt Teil der Welt ist. Auch eine Maus, die eine Welt aus der Ferne betrachtet, ist vorstellbar. Vielleicht schaut sie durch ein Teleskop. Vielleicht beugt sie sich über ein Mikroskop. Mitnichten ist sie eine Labormaus, die sich jeden Tag durch ein noch engeres Loch zwängen muss, um an die Erdnussbutter zu kommen, damit die Zoologie etwas zu messen und aufzuzeichnen hat! Nein, sie ist selbst die Wissenschaftlerin, die Weltvermesserin. Sie erhebt selbst Daten, vergleicht Größen, verfolgt Veränderungen und veröffentlicht ihre Ergebnisse.

© Anke Hüper 2024-09-08

Genres
Humor& Satire
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Komisch, Hoffnungsvoll, Informativ
Hashtags