Da hatte sich aber einer verrannt! Es war das Jahr 2020. Ich hatte ihn noch als Student gekannt. Er war ein wacher, ein immer aktiver Typ, ständig auf Achse, immer in Feierlaune, immer einen Witz auf Lager oder einen lustigen Spruch. Everybody’s Darling. Sein Studium ging ihm leicht von der Hand. Immer vornedran. Ganz klar einer der Besten. Seine Feier zu seiner Doktorwürde war eine der witzigsten und kreativsten, die ich erlebt habe. Dann konnte ich seine Karriere aus der Ferne beobachten. Wie er durch seine ungebremste Motivation, seine Intelligenz und seinen Wissensdurst immer weiter aufstieg. Auch Schicksalsschläge oder gescheiterte Liebesbeziehungen schienen seinem Optimismus und seiner Lebenslust nichts anhaben zu können. Er war immer er selbst geblieben.
Und dann dieser Post in den sozialen Medien. Plötzlich ein untypischer Beitrag. Zornig, ausgrenzend, unwissenschaftlich, menschenfeindlich, böse. Was war passiert? Corona-Diskussionen spalteten die Meinungen. Waren die gemeldeten Zahlen nun fundiert oder nicht? Waren die Testfrequenzen nun wissenschaftlich oder nicht? Waren die Parameter sinnvoll oder nicht? All diese berichteten Sachverhalte und all diese Gegendarstellungen. Woran waren falsch und richtig noch ablesbar? Waren die einen naiv und blind und die anderen hatten die wirklichen Hintergrundinformationen? Oder war es umgekehrt und die anderen waren geblendet und aus Prinzip renitent? Oder doch nicht? Wer kannte sich noch aus? Regeln wurden aufgestellt. Die einen hielten sich ängstlich, oder überzeugt oder auch obrigkeitshörig daran, die anderen begehrten dagegen auf. Zumindest schriftlich. Auf all den Plattformen in Internet und Printmedien. Aber er? Er rief auf, sich nicht von “Verschwörungstheoretikern” verrückt machen zu lassen und einfach zu tun, was die Amtsträger anordneten? Ausgerechnet er drohte öffentlich an, er würde jeden “Idioten” aus seinen Veröffentlichungen löschen, der behauptete, das Virus sei nicht gefährlich? So eine Haltung kannte ich nicht von ihm. Was war passiert? Schließlich war er ein renommierter Wissenschaftler. Er hatte doch immer ein Faible für gute Recherche und für sachliche Diskussionen? Ich schrieb ihm. Erinnerte ihn an seine sonstige Haltung, doch verschiedene Meinungen zunächst kritisch zu hinterfragen, zu überprüfen, nicht drastisch auszugrenzen, zu beschimpfen, oder böse zu werden.
Hatte ihn, ausgerechnet ihn, das Virus der Lagerbildung mitgerissen?
Ich erinnerte ihn an den von ihm geliebten, wissenschaftlichen Diskurs und dass nicht jeder, der Thesen aufstellt, die Wahrheit kennt und nicht jeder, der kritisch hinterfragt, gleich ein Verschwörungstheoretiker ist. Wozu diese Extreme?
Am Abend rechnete ich damit, dass er mich nun ausgrenzte.
Er tat etwas anderes: Er löschte seinen Post und arbeitete weiter.
Daran, methodisch die Wahrheit zu finden.
Er ist wieder da, der Wissenschaftler. Der Mensch.
© Cornelia Morhardt 2020-04-18