von Jana Wagner
„Schicken Sie es mir bitte bis 13:00 Uhr“, hatte er gesagt.
Ein Blick auf die Uhr stresst sie. Sie wagt es dennoch: 12:00 Uhr. Eine Stunde noch bis zur Mittagspause. „Alles, was ich jetzt nicht schaffe, wird auch heute nichts mehr!“ Sie tippt in die Tasten. Social-Media Redakteur ist ein kreativer Beruf, heißt es. Sie fühlt sich eher im Internet verloren, dem Algorithmus ausgeliefert. Er allein entscheidet über die Kreativität oder das Krepieren eines Posts. Heutiges Thema: Work-Life-Balance. Sie schreibt das, was erwartet wird, von ihrem Redaktionsleiter und der Community. Irgendwas von Zeitmanagement und Optimierung, das Wort Effizienz darf nicht fehlen. Keiner dieser klugen Tipps, die sie hier ins Dokument hackt, hat je was gebracht.
Ihr Tag startete morgens um 08:00 Uhr. Kurz Yoga, kurz duschen, kurz einen Kaffee, dann pünktlich um 09:00 Uhr im Büro sein. Dann schnell die Timeline checken, wie gehen die letzten Posts? Was steht heute an und wer liked hier was? Mal schnell Mails checken und dann mal schnell Meeting mit dem Team. Danach abliefern! Seit sie in der Agentur ist, ist alles in ihrem Leben „nur kurz“ oder „mal schnell“, absolut nichts kann einfach mal so sein, wie es ist. „Bling!“ Google-Erinnerung liest sie oben rechts im Bildschirm. „Weißt du noch vor 5 Jahren?“
Dann eine Vorschau ihrer Galerie. Sie erkennt sich. Auf einem Balkon hinter ihr die Aussicht auf eine kleine Hafenstadt und das Meer. Ihr letzter langer Urlaub. Vor ihrem Job in der Agentur war sie einen ganzen Sommer in Italien gewesen. Um zur Ruhe zu kommen, um endlich ihr Buch zu schreiben! Sie hat fünf Kapitel geschafft und wollte dran bleiben. Doch zwischen alldem „mal kurz“ und „eben schnell“ blieb keine Zeit mehr. Sie hält inne und schaut sich um. Dieses hippe Loft-Büro hatte sich als eine kreative Zwangsjacke mit Kicker-Tisch entpuppt, denkt sie. Ihre Kollegen alle super motiviert, scheinbar jedenfalls. So wie sie selbst.
Sie hatte sich immer entspannt mit einem Laptop an einem Ort ihrer Wahl, Texte ihrer Wahl schreiben sehen. Sie seufzt und tippt weiter ihren Post. Fertig. Dann klappt sie den Laptop zu, packt ihn in ihre große Tasche und steht auf. „Ist dein Post schon abgenommen?“, fragt ihre Kollegin vom Nachbartisch. „Ich hab ihn eben rausgeschickt und mach erst mal Mittag.“, entgegnet sie ruhig.
Sie hatte viel gelernt in den fünf Jahren. All diese Tipps, die sie täglich via Posts in die Welt schickt. Zeit wirds, dass sie jemand befolgt. Was sie bis jetzt nicht geschafft hat, wird nichts mehr. Nie mehr. Draußen vor dem Loft-Büro ruft sie sich ein Uber. Jetzt nimmt sie ihren Alltag selbst in die Hand, denkt sie mit einem Lächeln auf den Lippen, diesmal einem echten! Agenturen gibt es wie Sand am Meer. Aber sie hat mehr zu schreiben als ein Posting oder eine Headline fassen kann.
Sie steigt ins Uber: „Einmal zum Flughafen bitte!“
© Jana Wagner 2022-08-29