Momentaufnahmen

Ignatius-B-Samson

von Ignatius-B-Samson

Story

Ich versuche immer aus dem Augenblick heraus zu schreiben, denn wenn es um wahre Empfindungen geht, dann sind Vergänglichkeit und Einzigartigkeit im Spiel. Wenn es um Emotionen geht, können sie nur in dem Moment authentisch und ehrlich niedergeschrieben werden, in dem sie empfunden und gelebt werden. Alles andere wäre nur eine Kopie, eine Rekonstruktion. Immerhin ist auch jeder Augenblick des Schmerzes einzigartig, denn ihm liegen andere Ursachen, andere Situationen und andere Menschen zugrunde. Selbst ein- und derselbe Mensch, der aus ein- und demselben Grund heraus leidet, wird ihn zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Konstellationen anders wahrnehmen und beurteilen – zwangsläufig, denn Menschen verändern sich unablässig und nichts wird sich jemals genauso wiederholen wie es einmal geschehen ist. Natürlich kann man in Erinnerungen schwelgen – wenn sie schön sind, und natürlich kann man unter ihnen leiden – wenn sie schlecht sind. Aber immer wird es nur ein Abklatsch bleiben, ein Schatten der Erinnerung dessen, was einmal erlebt, gelebt, gefühlt und empfunden wurde.

Nur im Augenblick sind sie echt und unverfälscht, und die verstreichende Zeit wird sie verändern, ebenso wie sie alles verändert. Schöne Erinnerungen werden rosarot eingefärbt, schlechte Erinnerungen verkommen zu einem Sumpf, Schmerzen werden zu einem dumpfen Pochen, und worum es eigentlich geht, das gerät allzu schnell in Vergessenheit.

Ich versuche immer aus dem Augenblick heraus zu schreiben, aber natürlich spielt das Leben da nicht mit, Situationen, Gegebenheiten, Umstände, all diese Dinge, die viel wichtiger geworden sind als sie eigentlich sein sollten, kommen in die Quere. Also müssen Gefühle und Empfindungen eben doch später rekonstruiert werden, so gut es eben geht, in dem Wissen, dass es niemals ausreichen und angemessen sein wird. Ich tauche wieder ein in das was war, erinnere mich daran, was mich so verletzt hat, vergegenwärtige mich der Banalität und der Unwichtigkeit der eigentlichen Situation, denn es geht schon längst nicht mehr um das, um das es im Ursprung einmal gegangen war. Blicke, die einen Sekundenbruchteil zu lange dauern, Berührungen, die nicht stattfinden, Angst, ob nicht vielleicht doch jemand die Trauer hinter dem Lächeln erkennt.

Natürlich ist es schmerzhaft, erneut in diese Situationen einzutauchen, Angst, Wut, Trauer, Verbitterung und Enttäuschung erneut wahrzunehmen, und es ist gefährlich, so tief in den Abgrund der eigenen Seele zu blicken, denn es ist, wie Nietzsche es sagte: „und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Ich tue es dennoch, denn nur wer in die Tiefe blickt, kann vielleicht irgendwann die Angst vor dem Fall überwinden.

© Ignatius-B-Samson 2023-05-04

Genres
Biografien
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Inspirierend
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