von fraeuleinfreud
Es war ein Tag, an dem der Stress in Wellen kam. Der Montag vor dem Lockdown. Ambulanzdienst. Alles für den unerwarteten Notbetrieb vorbereiten. Mails schreiben. Den ganzen Tag läuten alle Telefone. Ein bunt zusammengewürfeltes Team am Vormittag, ein etwas eingespielteres Team am Abend. Raus raus, schnell, alle wollen nachhause, ein flüchtiges Ciao, bis bald, wir sehen uns, auch wenn keiner weiß wann, weil wir nur in sehr reduzierter Zahl Dienst haben werden die nächsten Wochen, keiner weiß wie lange.
Wir gehen los, alle zehn von uns in unterschiedliche Richtungen. Ich zuerst geradeaus, bis mir einfällt, dass ich ja links abbiegen muss. Im Hintergrund hatte ich schon ein Knallen gehört, aber wir leben in einer Großstadt, da gibt es öfter solche Geräusche. Die Bim steht da, Mist, schon wieder verpasse ich sie, egal, es ist schon spät, ich will nicht laufen, es ist ungewöhnlich schwül an diesem Montagabend im November. Oh, die Ampel ist rot, na dann hopp hopp, ah, da vorne ist noch eine Kollegin, da kann ich auch noch schnell in den Waggon springen.
Die Türe ist offen. Am Boden liegt ein Mann. Menschen sitzen herum. Wieso liegt er am Boden. Er hat eine gelbe Jacke an. Glaube ich. Eine gelbe Jacke und ein großes Instrument, ein Cello, ein Kontrabass, in einer beigen Hülle. Er liegt am Boden und ist wach, wieso steht er nicht auf? Seine Augen sind offen. Ich steige nicht ein, ich denke, die Bim wird nicht fahren wenn ein medizinischer Zwischenfall passiert ist, hm, blöd. Das alles spielt sich vermutlich in Bruchteilen von Sekunden ab. Auf einmal packt mich meine Kollegin am Ärmel. Hier wurde geschossen. Im nächsten Moment höre ich es. Es knallt zwei mal, glaube ich. Der Mann wurde erschossen! Was? Der liegt doch nur da und ist wach? Neben uns eine alte Frau, wo kam sie her? Ich weiß es nicht. Sie sagt etwas von Männer haben geschossen. Sie sind Richtung Schwedenplatz gelaufen. Ich selektiere Informationen. Ich schaue Isabella an. Meine Augen sagen „Weg hier!“ und ich sage: „Rennen?“ Und wir rennen. „Wohin?“ „Ich weiß nicht, weg! Durch die Gassen?“ In dem Moment will ich nur weg von Menschenansammlungen. Ein paar Sekunden später knallt es wieder. Jetzt wissen wir, es sind Schüsse. Zwei mal? Vier mal? Die Schüsse kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Weiterlaufen ist keine Option, wir wissen nicht, wo die Täter sind, wie viele es sind. Aber sie sind oben. Sie schaut mich an. „Ubahn?“ Ich überlege kurz, Ubahn erscheint mir gefährlich, aber schnell. Mir ist klar, wenn wir jetzt hier nicht wegkommen, werden wir festsitzen, die Stadt wird abgeriegelt werden. Auch wenn ich weiß, dass es gefährlich ist, auch wenn ich weiß, dass die Entscheidung, die ich gerade so oder so treffe, schiefgehen kann, entscheide ich mich dafür, zu laufen.
Wir haben Glück, endlich, einmal. Ich danke jeder verpassten Ubahn, über die ich mich geärgert habe dafür, dass diese jetzt da war und wir gerade noch hinein springen konnten bevor sie losfuhr.
© fraeuleinfreud 2020-11-03