Morgen ist der Komparativ von Heute.

Erdim Özdemir

von Erdim Özdemir

Story

Erst heute. Dann morgen. Irgendwann irgendwann. Heute schreibe ich Geschichten, morgen möchte ich der Welt von ihnen berichten. Märchen schreibt die Zeit, so heißt es in ,,Die Schöne und das Biest.”Mein Märchen begann, als ein Spermium mit der Geschwindigkeit von Michael Phelps sowie dem Überlebensinstinkt von Indiana Jones durch den richtigen Eileiter schwamm und neun Monate, nach diesem Ménage-à-deux, mein Märchen geschrieben wurde. Unzähligen Umwelteinflüssen ausgesetzt schenkte mir dieser Geschlechtsakt eine festgelegte Anzahl aus Morgenen, deren Ziffer mir heute noch unbekannt bleibt. An einem Gestern ist meine Oma gestorben, heute fehlt sie mir und morgen wird sie es auch. Heute sah ich meine Eltern und ich musste sie nicht vermissen. Aber es wird einen Morgen geben, da werde ich sie für immer vermissen. Wie in einer unbändigen Sucht wird dieses Gefühl nicht befriedigt. Neben Märchen schreiben auch Tragödien der Zeit, so trifft eventuell sie diese Sehnsucht.

Die beste Zeit sei jetzt, predigen selbsternannte bio-deutsche Schamanen auf Instagram, die von Hessen nach Bali gezogen sind, da dort die Energien mehr im Flow sind. Bloß keine Zeit für die Zukunft verschwenden, das sei Verschleuderung für das Jetzt. Aber eigentlich müssen wir Zeit verschwenden, um die Zukunft zu erreichen. Ein Morgen ist der Komparativ von einem Heute. Nach diesem Heute wünsche ich mir, dass ich in einem Morgen aufwache. Ich werde aufstehen, gähnen und versuchen, aus dem Gestern vom Heute, das ein Morgen war, zu lernen: Weniger böses Plastik kaufen, mich mehr mit diesem Mysterium Kapitalanlagen beschäftigen und mehr Dankbarkeit in einem nicht-toxischen Maß predigen.Heute geht es mir zwar gut, aber dafür kann es mir morgen schlechter gehen. Zu viele Gestern erlebte ich, die mir Angst vor einem Morgen machten. Ich wache auf und habe Angst vor einem Heute.

In einigen Sachen bin ich vom Anbeginn meines Märchens privilegiert, allerdings hauen mir Desintegration und Exklusion eins in die Fresse. Mein Märchen schreibt Tragödien mit Rassismus und Ableismus. Die Welt schreibt nonstop Tragödien von Kriegen und Klimakrisen. Morgen muss ein Komparativ vonHeute werden. Auch wenn ein Morgen mir nicht die Sicherheit von einem Heute versprechen kann oder gute Laune wie Pharell mit mir tanzt, während Spatzen Disney-Songs trällern. Ich lebe heute, damit ich morgen erleben kann. Ich möchte heute leben, damit sich ein Morgen nicht nach Überleben anfühlen muss. Für mich und für andere, die täglich ums Überleben kämpfen.

Heute versuche ich, alles richtig zu machen. Für morgen kann ich nicht versprechen, es dem Heute nachzumachen. Das Heute, das ich mit in den Morgen nehme, ist geprägt von meinem Gestern, hinter dem ein Irgendwann lauert. Morgen ist der Komparativ von Heute, denn ich wünsche mir das mein Heute ein Morgen ebnet. Bestmöglich versuche ich, morgen von heute zu lernen. In Hoffnung schwelge ich, dass die Welt morgen vom Heute lernt.

© Erdim Özdemir 2022-05-02